Volk der Verbannten
war nicht bewacht - dies war die private Treppe des Quellenpalasts, die sicher seit Jahrzehnten nicht mehr genutzt worden war. Die junge Frau stieg die Stufen eine nach der anderen hinauf und blieb mehrmals stehen, um zu verschnaufen.
Endlich kam sie oben an.
Die Nacht war dunkel: Wolken, die am späten Abend aufgezogen waren, verdeckten das Licht der Monde. Die innere Stadtmauer, auf der Vashni nun stand, war etwas höher als der zweite Mauerring, der wiederum den ersten um fünf oder sechs Fuß überragte. Fackeln brannten auf dem Wehrgang - Dutzende, ja Hunderte von Fackeln. Vashni hielt den Atem an. Auf der äußeren Mauer standen Hunderte von Männern. Wachen, Patrouillen. Und auf der anderen Seite, in der Ebene, wurde gekämpft: vier oder fünf Meilen nördlich von ihr in der Nähe eines hohen Turms. In dieser Dunkelheit war es unmöglich zu sehen, welche Truppen dort waren und wer die Oberhand hatte. Von ihrem Standort aus konnte Vashni nur tanzende Lichter erkennen: Lagerfeuer, Fackeln, brennende Pfeile.
Die junge Frau blieb einen Moment reglos wie hypnotisiert stehen. Dann legte ihr jemand die Hand auf die Schulter, und sie zuckte zusammen.
»Banh!«, sagte sie mit klopfendem Herzen. »Ihr habt mir einen Schreck eingejagt.« Das Gesicht des Ratgebers war im Dunkeln kaum zu erkennen. »Ich dachte, Ihr hättet den Palast verlassen.«
»Ich hatte keine Lust zu gehen«, erwiderte er leise, trat dann neben sie und ließ den Blick über die Armeen unter ihnen schweifen. »Ich habe die Diener mein Gepäck wegschaffen lassen, aber ich…« Er zuckte mit den Schultern. »Da drüben, dicht bei uns, wird Geschichte geschrieben. Es wirkt so … lächerlich zu fliehen. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll. Es ist ein seltsames Gefühl.« Er machte eine vage Bewegung.
»Ich weiß«, sagte Vashni. »Ich … Es geht mir genauso.«
Seite an Seite beobachteten sie den Tanz der Lichter in der Ebene.
Die Sakâs griffen brüllend an, und auf Harrakins Signal knieten die Fußsoldaten sich hin und rammten ihre Lanzen in den Boden, um die erste Angriffswelle zu brechen. Die Barbaren verlangsamten ihren Lauf nicht, und bald ertönten die ersten Schreie aufgespießter Männer. Es waren weniger als vorhergesehen, dachte Harrakin, als er sein Schwert zog und zwischen den Reihen hindurchschritt. Die Anführer der Sakâs hatten ihren Männern einige einfache, aber wirkungsvolle Abwehrbewegungen beigebracht: wie sie sich auf den Boden werfen konnten, um unter den Eisenspitzen der Lanzen hindurchzugleiten, wie sie sich mit den Körpern derjenigen, die schon durchbohrt waren, schützen konnten, wie sie den Soldaten die Lanzen entreißen konnten, wenn sie erst einmal die Sperre durchbrochen hatten, um den Nachrückenden Platz zu machen. Seinen Schätzungen nach waren nur etwa vierzig Sakâs gefallen, und andere drängten bereits nach.
Der Kampf erfasste die ersten Reihen, erhellt nur vom flackernden Licht der Fackeln, die in den kleinen Steinmauern steckten, hinter denen die Soldaten aus Reynes und Harabec sich verschanzt hatten. Die Sakâs brüllten Kriegsschreie, Drohungen und Sprechgesänge. Ihre Gegner schlugen stumm zu; von ihnen hörte man nur die knappen Befehle der Offiziere. Harrakin machte noch einige Schritte; dann schlug er mit aller Kraft zu und hieb sein Schwert in den Kopf eines Feindes, der sich zu weit vorgewagt hatte. Er zerschmetterte ihm den Schädel. Harrakin zog seine Klinge zurück und wischte sie an der
Hose ab. Wind kam auf und ließ das Feuer der Fackeln auflodern. Einen Augenblick lang tanzte das Licht und verwandelte das Schlachtfeld in eine Bühne aus Licht und Schatten, auf der die Männer in grotesken, heldenhaften oder tragischen Posen erstarrt schienen, als sei der Krieg nur ein Theaterstück.
»Zieht Euch zurück, Majestät!«, schrie ein Mann hinter ihm. Harrakin erkannte seinen Adjutanten, dem das Blut übers Gesicht lief. »Geht kein unnötiges Risiko ein!«
Er hatte recht. Harrakin ging zu ihm hinüber und warf einen letzten Blick auf den Strom von Barbaren und die Männer, die wohl oder übel die Stellung hielten. Zwei Drittel ihrer Armee waren am Turm angekommen und hatten sich noch rechtzeitig zwischen der alten Festung und der Westmauer von Reynes verteilen können, um den Zugang zu den Toren zu versperren. Aber die Sakâs rückten schneller als erwartet vor, und der Angriff hatte bei Sonnenuntergang begonnen, während sämtliche Reyneser Rekruten und auch manche Nâlas ihr
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