Volk der Verbannten
melodiösen Missklang.
Sie waren nicht alle einer Meinung. Auch wenn man die militärischen Signale nicht kannte, konnte man die
Dissonanz deutlich wahrnehmen. Die Befehle waren widersprüchlich, zögerlich.
Vor dem Großen Tor begann Pilanos einen weiteren Angriff, und die Barbaren knickten unter dem Ansturm ein.
Eine neue Welle von Hornsignalen.
Jetzt waren die Truppen im Westen an der Reihe, sich zurückzuziehen.
In einer langsamen, aber merklichen Bewegung begannen die Barbarentrupps, sich von der Stadtmauer zu entfernen, und ließen die letzten Verteidiger verblüfft zurück.
Stück für Stück setzte sich die Bewegung fort.
Viennes hielt den Blick starr auf das Schlachtfeld gerichtet und ließ Augenblicke, ja Stunden vergehen, während er das langsame Wunder beobachtete, das sich vor seinen Augen abspielte.
Die Barbarenflut kehrte in die westlichen Lande zurück.
Der Große Zyklus war vorüber.
»Rückzug! Rückzug!«, schrie Day-Yan.
Auf dem Hügel erloschen die Ayesha-Feuer eines nach dem anderen: das Zeichen zum Rückzug. Day-Yan galoppierte zwischen den Raubkatzen hindurch und bedeutete ihnen, sich zurückzuziehen. Es hatte keinen Sinn, sich umbringen zu lassen, wenn die Sakâs sich entfernten.
Im Gegenteil: Sie mussten ihnen den Weg frei machen, ihnen Platz lassen …
Etwa vierzig Barbaren hatten die Befehle nicht verstanden oder sich entschlossen, sie nicht zu befolgen. Sie warfen sich brüllend auf Haîks Trupp. Day-Yan gab einige Anweisungen und schickte hundert Mann als Verstärkung.
Es war nur ein Scharmützel. Im Nordwesten, nahe beim Großen Kreis, wurde noch gekämpft, aber auf ihrer Seite des Schlachtfelds war alles vorbei.
Day-Yan gab seinem Pferd die Sporen und folgte seinen Männern ins Lager.
»Wir haben gesiegt!«, schrie Laosimba und reckte sein Schwert zum Himmel. »Wir haben gesiegt!«
Er freute sich zu früh: Nicht alle Sakâs waren geflohen, und einige, die sich zu den Klippen im Nordwesten zurückgezogen hatten, schlugen eine tapfere letzte Schlacht. Über achthundert Sakâs hatten dem Rückzugsbefehl nicht gehorcht. Achthundert. Das war nicht viel, aber solange sie noch kämpften, war der Sieg nicht errungen.
Was von Pilanos’ Armee noch übrig war, hatte begonnen, sie zum Kampf zu stellen. Laosimba gab seinem Pferd die Sporen; er war in fröhlicher, blutdürstiger Stimmung. Er hatte lange nicht mehr gekämpft - eigentlich schon seit Jahren nicht mehr, seit er sich den Seelenlesern angeschlossen hatte -, aber er war gut ausgebildet, und als junger Priester hatte er mehr als einen Aufständischen getötet, als sein Orden die Häresie der Manaos-Anhänger niedergeschlagen hatte. Mit erhobenem Schwert wollte er gerade angreifen, als die Reiter aus Harabec an ihm vorbeistürmten, um sich ins Getümmel zu stürzen.
Harrakin, der ein Pferd aus dem Emirat ritt, gab etwas abseits seinen Armbrustschützen Befehle; die Männer gingen in Stellung, um die Flüchtenden zu töten.
Laosimba überlegte es sich anders, spornte sein Pferd an und ritt auf den König von Harabec zu.
Harrakin hatte während der letzten Phase des Kampfes
gelitten. Seine linke Schulter war verletzt, und eine klaffende Wunde zerteilte ihm das Gesicht von der Schläfe bis zum Mund. Aber er war am Leben. Und er hatte sich genug Energie bewahrt, um sich im Sattel aufzurichten und den Hohepriester argwöhnisch und verächtlich zu mustern.
Laosimba lächelte ihn an.
Das Lächeln war nicht gezwungen. Es war lange her, dass der Hohepriester sich so glücklich gefühlt hatte. Die Stadt war gerettet, die Sonne schien … Mit dem Sieg würde Reynes seine Macht zurückerlangen und noch mehr hinzugewinnen. Die angrenzenden Königreiche waren sehr geschwächt. Das Emirat existierte nicht mehr. Das würde künftige politische Schachzüge sehr erleichtern.
»Also habt Ihr überlebt.«
»Mit knapper Not«, sagte Harrakin und schenkte Laosimba ein Lächeln, dem es gelang, zugleich erschöpft und frech zu sein. »Enttäuscht?«
»Im Gegenteil«, sagte der Hohepriester. Harrakins Lächeln verschwand nicht, aber Laosimba sah das Aufblitzen von Besorgnis in seinen Augen. »Gilas es Maras hat mehr Glück gehabt als Ihr. Man hat seinen Leichnam keine fünfzig Fuß vom Großen Tor entfernt gefunden.«
Diesmal erlosch das Lächeln des Königs von Harabec. »Er war ein tapferer Mann.«
»Der falsche Entscheidungen getroffen hat wie Ihr. Ich hatte Euch gewarnt, dass ein einziger Fehler reichen würde. Ihr wart so
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