Volk der Verbannten
er vom Himmel aus über Menschen und Götter …«
Marikani schnaubte gereizt. »Sehr gut, Bara, sehr gut.« Sie winkte ab. »Ich will nichts mehr von den Göttern hören, einverstanden? Ich bitte Euch nur, mir zu glauben. Ich weiß, wer ich bin, und ich bin nicht Ayesha. Das ist alles.«
Wieder schwiegen alle, und Marikani musterte ihre anderen »Offiziere«. Halian betrachtete sie mit beinahe schmerzerfüllter Miene, und die anderen starrten sie mit offenem Mund an, als ob sie nichts verstanden.
»Es ist jedenfalls nicht der rechte Zeitpunkt, darüber zu diskutieren«, sagte Marikani seufzend. »Wir haben einen Angriff zu planen!«
Niemand antwortete.
Eine peinliche Pause folgte, und Marikani bückte sich, um erneut eine grobe Karte auf den Boden zu zeichnen. »Wir werden siebzig Männer nehmen. Die Handelshöfe sind alle mehr oder minder nach dem gleichen Prinzip gebaut … So«, sagte sie und erweiterte ihre Zeichnung. »Die Wachen werden sich verteidigen, und wir werden sie natürlich töten müssen, aber es werden auch Kaufleute und ihre Familien dort sein. Sie spielen hierbei keine Rolle. Wenn wir sie verschonen können …«
» Bei jedem Schritt der Götter sterben Unschuldige,
Denn der Weg der Götter führt durch Blut und Flammen,
Und die Straße ist noch lange nicht zu Ende …«
Halian war derjenige, der gesprochen hatte. Auch diese Verse stammten aus dem »Gesang vom Wege des Arrethas«, wie Marikani aufging, als sie ihre Karte ergänzte; sie hielt den Kopf gesenkt, um zu verbergen, wie verstört sie war. Dasselbe Lied war ihr schließlich gerade eben im Kopf herumgegangen.
»Ihr kennt diesen Text?«, fragte sie in gleichgültigem Tonfall und hob nun den Kopf.
»Das war eines der Lieblingslieder meines Herrn«, sagte Halian und hockte sich hin. Er strich sich mit einer Hand über den Oberkörper und lächelte, als er lässig einen großen Blutfleck auf Brusthöhe streifte, der auf dem dunklen Samt kaum sichtbar war. »Früher hatte er die schönen Kleider und sang. Jetzt trage ich sein Wams und singe.«
Der Handelshof zum Schwarzen Felsen lag am Kreuzungspunkt zwischen Südstraße und Seidenstraße südlich der Freien Städte. Es war weit und breit kein schwarzer Felsen zu sehen, und der Handelshof selbst war ein Bauwerk aus grauem Stein, das im leichten Regen, der die Unebenheiten der Mauern betonte, noch düsterer wirkte. Ein mittelgroßer Handelshof, eher zweckmäßig als eindrucksvoll … Gebäude, vor allem Ställe und Lagerhäuser, waren rings um einen weitläufigen Hof errichtet; alles war von einer breiten Außenmauer umgeben. Es gab zwei große Eingangstore, eines im Süden, das andere im Norden. Ein kleiner, viereckiger Turm mit zwei Stockwerken schützte das Nordtor, und die Mauer verfügte über einen Wehrgang.
Trotz Baras Vorhersage hatte Marikani mit einer sehr kleinen Wachmannschaft gerechnet - vielleicht mit jeweils drei Männern, die am Süd- und Nordtor dösten, und
mit fünf oder sechs weiteren, die im Turm Karten spielten -, aber ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Im Licht der wenigen Sonnenstrahlen, die durch den silbrigen Nieselregen drangen, zeichneten sich gut dreißig Silhouetten auf dem Wehrgang ab. Sicher befanden sich noch weitere im Innern. Also waren Vorsichtsmaßnahmen ergriffen worden - weil man wusste, wie Bara befürchtet hatte, dass ein Trupp entflohener Sklaven sich in den Wäldern verborgen hielt, oder nur, weil die Grenze in der Nähe lag? Es gab schließlich auch Flüchtlinge, von denen manche über die Berge gelangt sein mussten und nun hungrig hierherströmten. Die Händler hatten Angst vor Plünderern.
Plünderern wie uns , dachte Marikani, bevor sie Bara ein Zeichen gab und ihr Pferd wendete.
Es war seltsam, plötzlich auf der anderen Seite zu stehen. Plünderer waren der Albtraum der harmlosen Volksgruppen, die innerhalb der Grenzen Harabecs lebten, und Marikani hatte immer ihr Bestes getan, sie zu beschützen.
Die Sklaventruppe, die aus achtzig Mann bestand, war weniger als eine Drittelmeile entfernt am Waldrand aufgezogen. Marikani und Bara waren als Kundschafter vorausgeeilt, um den Handelshof von einem kleinen Hügel herab auszuspähen.
Sie entfernten sich langsam und spürten die Blicke der Männer auf dem Wehrgang im Rücken. Eine Frau zu Pferde, ein Mann zu Fuß … sie hätten alles Mögliche sein können. Sicher würde man sie für eine Adlige und ihren Diener halten, die nun umkehrten, um zu ihrer Eskorte zurückzugelangen, die
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