Volk der Verbannten
erwachte er.
Wasser tropfte auf Stein.
Er hieß Arekh. Aber es war schwer gewesen, den Namen wiederzufinden, er hatte mehrere Minuten gebraucht, um sich daran zu erinnern, und das erschreckte ihn. Er lag ausgestreckt irgendwo auf feuchtem Stein, das spürte er; er spürte auch, dass dem schon sehr, sehr lange so war, dass dies nicht das erste Mal war, dass er so an diesem Ort erwachte, bevor er wieder in einen Abgrund der Bewusstlosigkeit sank. Wenn er sich recht entsann, hatte er auch die Schreie eines Kindes gehört, eines ganz kleinen Säuglings, sicher die eines Neugeborenen. Oder vielleicht waren die Schreie Teil des Traums, denn wie sehr er sich auch konzentrierte und lauschte, jetzt hörte er keine Schreie mehr. Vielleicht schlief das Kind oder gehörte gar zu dem Albtraum … Sicher war es nur eine weitere Erinnerung an seinen Bruder, ein Symbol, dessen die Götter sich bedienten, um ihn zu quälen.
»Es gibt keine Götter.« Marikanis Stimme hallte in seinem Kopf wider. Sie hatte sicher recht. Die Menschen brauchten keine Götter, um sich zu quälen, das konnten sie auch allein sehr gut.
Der Gedanke klärte seinen Verstand. Er konnte die Augen nicht öffnen, der Kopf tat ihm viel zu weh, aber er hob die Hand mit einer abrupten Armbewegung, um den Boden abzutasten.
Zu abrupt. Etwas Metallisches spannte sich bei seiner
Bewegung an, eine Kette klirrte, ein Eisenring zerrte an seinem Handgelenk, und ein betäubender Schmerz schoss ihm durch den Arm, vom Ellbogen bis zur Schulter; ein Schmerz, wie er ihn nur selten erlebt hatte, so heftig, dass das Weiß des Schnees aus den Bergen ihm vor Augen trat und seinen Geist unter einer makellos reinen Lawine begrub, ein so heftiger Schmerz, dass er nicht einmal aufschreien konnte - und die Bewusstlosigkeit traf ihn wie eine Ohrfeige.
Während er in die Dunkelheit zurücksank, begann irgendwo wieder der Säugling zu schreien.
Später, sehr viel später, erwachte er. Dann sank er noch einmal in die Ohnmacht zurück und spürte nur, dass das Blut um seinen Schenkel mittlerweile eine kleine Pfütze bildete, dass der Schmerz in seinem Arm bis in die Schultern ausstrahlte. Er würde nicht lange überleben, das begriff er, bevor er das Bewusstsein verlor, in einem Schmerzensnebel dahintrieb. Er verlor Blut, die Wunde würde sich entzünden, und die Trockenheit seiner Kehle deutete darauf hin, dass er sicher seit sehr langer Zeit weder gegessen noch getrunken hatte. Doch der Gedanke stürzte ihn nicht in Verzweiflung; er flößte ihm weder Panik noch Entsetzen ein. Es gibt Schlimmeres als den Tod , sagte er sich, als er zum dritten Mal aufwachte; jetzt war er so schwach, dass seine Lunge Schwierigkeiten hatte, sich zu heben. Seine Schmerzen waren zugleich schrecklich und fern; er konnte sich beinahe davon lösen. Warum sollte er nicht hier sterben, auch wenn er nicht wusste, wo dieses »hier« sein mochte? Warum nicht träumend sterben, in einem Delirium, das seinen Bruder, seine Kindheit, die Hunde und Marikanis schallendes Gelächter
vermischte? Warum nicht in diesem Albtraum sterben, der ihm wenigstens erlaubte, umgeben von Gesichtern dahinzuscheiden?
Die Gesichter wirbelten aufs Neue in seinem Kopf herum. Irgendjemand flüsterte ihm etwas ins Ohr - seine Mutter oder vielleicht Merina. Etwas Sanftes, Tröstliches, aber die Frauengesichter, die vor ihm tanzten, nahmen immer wieder dieselbe Gestalt an, die einer Frau mit großen, schwarzen Augen, die nach ihm rief.
Langsam ließ er sich erneut in den Abgrund gleiten.
»Arekh es Morales von Miras«, sagte der Mann, der in der Zellentür stand. »Der seid Ihr doch?«
Arekh schwieg.
»Gut«, sagte der Mann mit einem kleinen Auflachen. »Haltet Euch bereit.«
Er entfernte sich, und die Tür schloss sich mit einem metallischen Klicken. Arekh rührte sich nicht.
Er saß auf dem Boden. Sein Schenkel war gewaschen und verbunden worden, die Wunde in seinem Arm genäht. Man hatte ihm eine lauwarme Gemüsesuppe und Brotstücke zu essen gegeben; jemand hatte auf der anderen Seite des Gangs eine Fackel brennen lassen. Nachdem die Frau, die ihn verarztet und gefüttert hatte, gegangen war, war er deshalb in der Lage gewesen, seine Umgebung in Augenschein zu nehmen. Es war tatsächlich eine Zelle - sicher unterirdisch, denn es drang kein Licht durch den Schacht oben in der Wand, nur ein kalter Luftzug. Die Wände waren aus schwarzem, feuchtem Stein; Wasser tropfte von einem kleinen Felsvorsprung in den grob behauenen
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