Volk der Verbannten
in Eile gewesen, sie hatten ganz andere Dinge als die Feinheiten religiöser Folter im Kopf gehabt, da die Meriniden auf die Mauern von Salmyra eingestürmt waren. Und doch reichte allein schon die Erinnerung an diese paar Stunden aus, Marikani in kalten
Schweiß ausbrechen zu lassen. War sie so schwach, dass schon die geringsten Widrigkeiten reichten, sie zu brechen? Vielleicht. Trotz ihrer Herkunft … Wann hatte sie denn schon körperlich gelitten? Nie. Das Aufwachsen in Samt und Seide war ein Zuckerschlecken gewesen, sie war umgeben von Ehrbezeugungen und liebevoll umsorgt groß geworden …
Dann war sie gefallen - und manchmal zweifelte sie daran, ob sie die Kraft haben würde, sich wieder aufzurichten. Ihr Körper schmerzte noch immer, wenn sie sich an das, was die Henker getan hatten, und an die Wanderung durch den brennenden Sand erinnerte. Nachts schreckte sie aus Albträumen hoch; sie fühlte sich schwach, ohnmächtig, unwürdig des Vertrauens derjenigen, die sich nur noch auf sie verließen.
In der Nacht des Großen Opfers hatte sie gehofft zu sterben. Sie hatte die Ihren weder retten noch im Stich lassen können, also hatte sie auf einen letzten Auftritt gesetzt. Sie hatte angenommen, damit vielleicht ein paar Sklaven zum Aufstand treiben zu können, aber nicht gehofft, das Opfer auch nur um eine Stunde zu überleben. Sie war sicher gewesen, dass die Soldaten sie töten würden und dass sogar Arekh, der sie schon so oft gerettet hatte, ihr diesmal nicht würde helfen können - es würde das Ende sein, sie würde sich endlich ausruhen können …
Aber das Ende war nicht gekommen. Über ihren Köpfen hatte der türkisfarbene Stern den Himmel in Brand gesetzt, und Marikani war nicht gestorben. Stattdessen war sie weggelaufen, geflohen, hatte gekämpft, Befehle gegeben, hatte schwankende Frauen und verzweifelte Männer bei der Durchquerung der brennend heißen Felsen
und Hochebenen unterstützt, war bis zur Erschöpfung durch den feuchten Schlamm der Berge gestapft.
Sie war nicht tot, und alles war noch lange nicht vorüber.
Die Prüfung ging weiter. Die Götter unterziehen die, die sie lieben, schweren Prüfungen , hieß es im Buch des Fîr, und die, die dessen würdig sind, bestehen sie lächelnd.
Aber Marikani glaubte nicht an die Götter und war sich nicht sicher, die Prüfung bestehen zu können - noch nicht einmal, wenn sie nicht lächeln musste.
Laos und Menala wurden nicht gefangen genommen, sondern kehrten mit wertvollen Informationen zurück. Marikanis Hypothesen waren beide falsch gewesen. Sie waren nicht in der Nähe des Emirats, und obwohl sie in der Tat über den Vihiri-Pass gekommen waren, war ihre »Truppe« danach wohl weiter als vermutet nach Süden geschwenkt. Sie waren näher an der Weißen Stadt als an der Tränenstadt, und obwohl der Fluss im Süden wirklich der Joar war, handelte es sich um einen anderen Arm als den, an den Marikani gedacht hatte.
Die schlechte Nachricht daran war, dass die Freien Städte keine Landwirtschaft betrieben und kein Getreide oder Mehl in ihren Speichern lagerten - oder zumindest nicht genug, um achthundert ausgehungerte Menschen zu ernähren. Die gute Nachricht war, dass der Südarm des Joar vor Fischen überquoll. Marikani schickte daher eine Gruppe von fünfzig Frauen zum Angeln und trug ihnen auf, mitzubringen, so viel sie nur konnten - sogar im Süßwasser lebende Braunalgen, die man kochen konnte, um eine essbare, gallertartige Masse zu gewinnen.
Das war keine Lösung, noch nicht einmal ansatzweise
eine Lösung - die Fische und Algen würden sie vielleicht einen Tag lang ernähren. Aber so würden sie zumindest Zeit zum Nachdenken gewinnen.
Die Freien Städte waren zwar keine landwirtschaftlich geprägten Staaten, aber ihr Reichtum beruhte auf dem Handel. Dutzende von Karawanen, wenn nicht mehr, zogen täglich mit ihren Waren über die Landstraßen. Nicht mit Gewürzen, Seidenstoffen und Schmuckstücken wie in Salmyra, sondern vor allem mit Handelsgütern, die für Marikani im Augenblick viel interessanter waren: mit Vieh, Gemüse, Mehl, Dörrfleisch und Wein.
»Eine einzige Karawane wird nicht ausreichen, um genug Nahrung für uns alle zu beschaffen«, sagte Marikani; sie ging auf dem feuchten Boden des Unterschlupfs auf und ab, den Halian hochtrabend »das Kommandozelt« getauft hatte. Außer Halian waren vier weitere Männer anwesend, Neuankömmlinge, die heute erst mit einer Gruppe von hundert Personen - darunter viele Frauen und
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