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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Armbrustschüsse der Soldaten, drinnen, weil die zwölf Männer aus Reynes im Kampf mit unausgebildeten Gegnern ein wahres Massaker anrichten würden. Aber am Ende würden auch sie der Übermacht erliegen, davongeschwemmt wie von einer Welle.
     
    Und diese Welle zerschmetterte in der Tat alles, als Marikani in der Abenddämmerung den Befehl zum Angriff gab. Es gab auch Tote, mehr als angenommen: Dreißig Mitglieder des Türkisvolks fielen, darunter Halian, der mit Ayeshas Namen auf den Lippen starb, nachdem er
den letzten Armbrustschützen von der Mauer gestürzt hatte, zu dem er sich mit Speerstößen durchgekämpft hatte. Und die Ayhâssi massakrierten die Wachen, hackten die zwölf Soldaten aus Reynes in Stücke und ermordeten den Händler, dem die Karawane gehörte.
    Marikani betrachtete vom Pferd herab die Sterbenden, deren Todeskampf auf dem gepflasterten Boden zu Ende ging, während die Flammen der Fackeln und das Feuer, das in den Ställen loderte, die Gesichter mit einem blutigen Schimmer überzogen. Rings um sie plünderten die Ayhâssi methodisch die Lagerhäuser, luden Mehl- und Kornsäcke auf Karren und nahmen auch Stoffballen und Bündel von Gewürzen mit, die vielleicht irgendwann als Tauschware dienen konnten.
    Bald lebte bis auf die Eindringlinge kaum jemand mehr: nur die tränenüberströmte Frau des Kaufmanns, ihre beiden Großnichten, ihr junger Lehrling, eine Gruppe alter Händler aus der Tränenstadt, die das Pech gehabt hatten, im Augenblick des Angriffs gerade im Handelshof zu sein, die Köchin und ihr ganz kleines Kind.
    Die Ayhâssi trieben sie unter Baras Befehl am Ende des Hofs zusammen und warteten auf Marikanis Anweisungen. Sie musterte das kleine, zitternde Grüppchen. Noch vor einigen Stunden hatte sie darum gebeten, die Unschuldigen zu verschonen, aber sie war jetzt schon nicht mehr dieselbe. Als sie den Befehl zum Angriff gegeben hatte, hatte sich ein Teil von ihr für immer verändert. Die eisige Stimme der kalten Vernunft sprach nun zu ihr, sagte ihr, dass sie keine Zeugen am Leben lassen durfte, dass niemand in der Lage sein durfte, zu erzählen, wo oder wie viele sie waren, woher sie kamen … Das Geheimnis würde nicht lange gewahrt bleiben, aber die
wenigen Stunden, die sie gewinnen konnten, bevor Strafmaßnahmen eingeleitet wurden, könnten entscheidend sein. Einige Stunden würden es ihnen gestatten, in den Norden zu fliehen, tiefer in die Wälder, weit weg von hier, so dass niemand sie finden würde.
    Die eisige Stimme bestätigte ihr, dass »Ayesha« diese Frauen und Kinder hier opfern musste, wenn sie ihre Frauen und ihre Kinder retten wollte, die dort hinten im Wald auf sie warteten.
    Und Marikani war trotz allem zynisch genug, das einzusehen.
    Arekh würde sich totlachen, wenn er das wüsste , dachte sie und winkte Bara zu sich.
    Der Mann trat heran.
    »Tötet sie«, sagte sie, indem sie auf die Überlebenden deutete.
    Wenn man einen Befehl gibt , hatte ihr Hauslehrer immer gesagt, dann hat man sich schon vor einer Ewigkeit damit abgefunden .
    Sie wandte den Blick nicht ab.

KAPITEL 3
    Wasser tropfte auf Stein.
    Der Mann litt. Das Leid rief ihn aus seinem beklommenen Traum, wuchs, breitete sich aus: Es kroch durch seine Glieder, in seinen Schenkel, in seine Leistenbeuge, wie vor langer Zeit, als er über die Berge gewandert war. Die Berge tanzten in seinem Traum - er wusste, dass es ein Traum war, obwohl er sich nicht daraus zu befreien vermochte und nicht wusste, wer er war oder wo er war -, und er atmete die eisige Luft über dem Schnee ein, sah die verschlungenen Zweige und das Herbstlaub, hörte das Geheul der Hunde und den keuchenden Atem der beiden Frauen hinter ihm. Der Schmerz kroch weiter empor, er war nun von seiner Leiste bis in seinen Bauch vorgedrungen, strahlte in all seine Muskeln aus, und er begriff, dass einer der Hunde ihn gepackt hatte … dass er rannte, den Hang hinaufkletterte, obwohl ein Hund sich in seinen Bauch verbissen hatte. Der Kopf war ihm schwer, schwer, weil er Alkohol getrunken hatte, und wenn sein Bauch ihm wehtat, war dann wirklich der Hund dafür verantwortlich oder der Blick seines Vaters, der dort drüben am anderen Ende des Tisches saß, dieser Blick, an den sich
der kleine Junge nur erinnern musste, um sich vor Entsetzen zu krümmen?
    Das Blut floss über die Bodenplatten, über den Waldboden, das Blut des Keilers vermischte sich mit dem Blut seines Bruders, auf der Haut seines Beins, heiß auf seinem starren Fleisch … Und davon

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