Volk der Verbannten
jenseits des Hügels wartete.
Dreißig Wachen also und wahrscheinlich noch fünfzig mehr innerhalb der Gebäude. Das war die erste Überraschung,
und sie erlebten noch eine weitere, eindrucksvollere, als sie die Straße entlangkamen. Eine Karawane aus sieben Karren, die von Kiranyern gelenkt und von einer Eskorte von zwölf Reitern geschützt wurden; sie trugen Schwarz und Silber, die Farben von Reynes.
Beim Anblick ihrer Uniformen durchlief Marikani ein eisiger Schauer. Sie kamen an der Karawane vorbei, sie sehr aufrecht auf ihrem Pferd, Bara in seiner demütigen Dienerhaltung, den Blick auf den Boden geheftet, damit niemand seine zu hellen Augen bemerkte.
Marikani zwang sich sogar, den Kutschern zuzunicken. Zum Glück war sie zu ärmlich gekleidet, als dass die Männer ihr viel Aufmerksamkeit geschenkt hätten.
Wir sind nur zu zweit; ein paar Handgriffe, und sie hätten mich , dachte sie, als die Wachen keine drei Schritte entfernt an ihr vorüberritten. Ja, nur einige Handgriffe, und sie würde sich abermals in Ketten in einer Sänfte wiederfinden, auf dem Weg nach Reynes und in die Folterkammern der Seelenleser …
»… und fünf gute Pferde«, murmelte Bara, als sie vorüber waren.
»Wie bitte?«
»Die fünf Füchse dahinten … Ihr habt sie doch gesehen?«, wiederholte ihr Begleiter, und als Marikani einen Blick zurück riskierte, sah sie in der Tat fünf Pferde, die an den letzten Karren gebunden waren. Bara hatte recht: Die fünf Füchse waren schöne Pferde, schnell und kräftig. Außerdem waren da noch die zwölf Pferde der Mitglieder der Eskorte; sie würden gute Reittiere abgeben, sobald die Männer aus Reynes außerstande waren, zu protestieren …
»Außerstande, zu protestieren«. Ein Ausdruck, den
Banh, ihr Ratgeber am Hof von Harabec, gern gebraucht hatte. Banh war ein sensibler, wohlerzogener Mann, der nur in verhüllenden Metaphern von Gewalt sprach und beim Anblick von Blut blass wurde. Wie oft hatten Harrakin und Marikani deswegen freundlich über ihn gespottet?
Insgesamt also siebzehn gute Pferde. Mit ein wenig Glück würden sie drei oder vier mehr im Handelshof finden, also alles in allem zwanzig. Gab es zwanzig Reiter in ihrer Truppe? Wenn das nicht der Fall war, würde man welche ausbilden können. Zwanzig Reiter würden eine gute Vorhut für künftige Angriffe darstellen - denn die Vorräte aus diesem Handelshof würden nicht ewig reichen, sie würden mehr brauchen. Und diejenigen, die nicht reiten konnten, mussten ebenfalls ausgebildet werden, um gute Fußsoldaten zu werden: Sie würden die Familien in der Mitte marschieren lassen, so dass die Krieger sie beschützen konnten. Auf dem Ritt zurück in den Wald organisierte Marikani im Geiste schon die Truppen, ernannte die Anführer und ließ Waffen und Vorräte verteilen, ganz so, als ob die Erwähnung der Pferde ihren Verstand aus dem Nebel der Hoffnungslosigkeit befreit hätte, der noch am vorhergehenden Morgen darin geherrscht hatte. So als ob die andere Marikani zurückgekehrt sei, die Harabecs Armeen befehligte, mit den bedeutendsten Herrschern verhandelte und sich weigerte, eine Situation als verzweifelt zu betrachten, selbst wenn sie von Hunden durchs Gebirge gehetzt wurde … So als würde diese andere Marikani, wenn sie halb die Augen schloss, sehen, wie sich die Informationen miteinander verbanden, Fasern, die einen Faden der Strategie bildeten. Diese Marikani, die überlegt handelte und binnen
weniger Jahre dafür gesorgt hatte, dass Harabec seine Machtstellung im Süden der Königreiche zurückerobert hatte, wartete nur auf einen einzigen Satz, um endgültig wiederzukehren …
»Es sind jedenfalls viele Männer im Handelshof«, sagte Bara und rümpfte die Nase. »Aber was dort zu holen ist, ist das Risiko wert. Ändern wir die Strategie, Ayesha?«
»Nein.«
Die Strategie war kristallklar und einfach: Mit den Männern, über die sie verfügte, konnte es gar keine andere geben. Die achtzig Mann würden sich so unauffällig wie möglich heranschleichen, sich aufrichten, sobald sie bemerkt wurden, und schreiend aufs Nordtor zustürmen, um es mit einem großen, grob entasteten Baumstamm, der als Rammbock dienen würde, einzurennen. Das Tor würde nicht lange standhalten; darauf war es nicht ausgelegt. Überhaupt war der Handelshof nicht dazu gedacht, achtzig ausgehungerten Männern viel entgegenzusetzen. Die Mauern dienten nur dazu, kleine Räuberbanden abzuschrecken.
Natürlich würde es Tote geben, draußen durch
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