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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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viele Tätigkeiten ausgeübt, o mächtige Ayesha. Manche erforderten, dass ich las, andere, dass ich reiste, wieder andere, dass ich kämpfte.«
    »Das sind ja gleich mehrere Lebensläufe in einem«, sagte Marikani lächelnd - aber niemand schmunzelte über ihren Scherz. Spar dir deine Witze für ein anderes Publikum auf , dachte sie seufzend. »Gut. Hört her, Bara. Hört alle her.«
    Stille senkte sich über das Zelt, und sie spürte, wie sechs Augenpaare sie unverwandt ansahen und musterten, als ob sie sich an ihr berauschten und Kraft aus ihr schöpften.
    Die Menschen halten den Blick auf die Götter gerichtet
Und Tag und Nacht spüren die Götter
Die Last ihrer Blicke:
Und diese Blicke sind das Band
Zwischen der Menschenwelt und den Himmeln …
    So hieß es im »Gesang vom Wege des Arrethas«. Warum musste diese Strophe ihr gerade heute Morgen in den Sinn kommen? Marikani hatte am Hof so viele dieser Lieder gehört und nie wirklich darauf geachtet; im Laufe der Zeit hatte sie, wie so viele andere Herrscher, gelernt, einfach geradeaus zu sehen und so zu tun, als lausche sie
dem Hohepriester, obwohl sie in Wirklichkeit schon an die nächste Ratssitzung dachte.
    »Ich bin keine Göttin. Ich bin weder die Tochter Fîrs noch die des Gottes, dessen Namen man nicht nennt. Ich bin nur ein Mensch, hatte Vater und Mutter - beide waren Sklaven, ganz wie ihr. Das habe ich Halian schon oft gesagt, aber er will mir nicht glauben«, sagte sie in einem neuerlichen Versuch zu scherzen, aber wieder lächelte niemand. »In Nôm habe ich nichts weiter getan, als das Signal zum Aufstand zu geben. Ich habe den Sternen keinen Befehl erteilt, ich habe die Rune nicht ausgelöscht. Wenn der türkisfarbene Stern dort oben am Himmel explodiert ist, dann habe ich nichts damit zu tun - ich weiß nicht, wie und warum das geschehen ist. Das Türkisvolk … ihr … wir …« Sie holte tief Luft. »Wir haben diese Gelegenheit zum Aufstand ergriffen und uns befreit. Aber damit haben die Götter nichts zu schaffen. Und ich bin nur ein Mensch.«
    Es herrschte Schweigen.
    »Ich weiß, dass ihr den Glauben an Ayesha braucht«, sagte sie, weil sie spürte und wusste, dass die Männer sie nicht verstanden, dass sie ins Leere sprach, dass sie, wenn sie schon nicht so recht begriffen, was ein »Handelshof« war, wohl kaum die subtilen Wirkungsweisen des Glaubens zu durchschauen vermochten. »Aber ich habe viel zu lange gelogen und mir vorgenommen, nie wieder damit anzufangen. Ich bin … eure Kriegsherrin«, sagte sie seufzend, da ihr keine bessere Bezeichnung einfiel. »Das ist alles.«
    Wieder Schweigen.
    »Der Stern ist in Flammen aufgegangen, als Ihr den Arm gehoben habt«, sagte Bara schließlich. »Ich habe da
draußen mit den Leuten aus Nôm gesprochen. Sie haben Euch gesehen. Sie alle haben Euch gesehen!«
    »Bara«, sagte Marikani sanft. »Habt Ihr schon einmal die Sonne aufgehen sehen?« Er nickte. »Stellt Euch vor, dass Ihr hoch oben auf einem Berg steht, kurz vor Sonnenaufgang. Ihr hebt die Arme, um zu beten - und da geht die Sonne auf. Bedeutet das, dass Ihr die Sonne habt aufgehen lassen?«
    »Natürlich nicht«, sagte Bara und bleckte seine weißen Zähne zu einem breiten Lächeln. »Aber die Sonne geht jeden Tag auf.«
    Marikani schwieg einen Moment lang, weil sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Dann seufzte sie. »Hört … wenn ich eine Göttin wäre, warum sollte ich es dann leugnen? Warum sollte ich versuchen, Euch vom Gegenteil zu überzeugen?«
    »Vielleicht wisst Ihr es nicht«, antwortete Bara nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Wie Faniima, die glaubte, eine Schäfertochter zu sein, und die erst, als sie Königin wurde, begriff, dass eine Göttin sie geboren hatte.«
    Ich habe wirklich Glück , dachte Marikani ironisch. Vielleicht ist das hier der einzige Sklave im Lager, der über einen Anflug von religiöser Bildung verfügt - und er muss ausgerechnet jetzt in meinem Zelt stehen!
    »Faniima hatte göttliche Kräfte«, sagte sie. »Seht mich an! Mir tun die Füße weh, ich habe Hunger, mein Haar ist schmutzig. Wenn man mich schlägt, dann leide ich. Wenn man mich tötet, sterbe ich. Ich habe nichts von einer Göttin.«
    »Viele Götter sind auf dieser Erde gestorben«, sagte Bara leise. »Fîr selbst ist im Feuer des Gottes, dessen
Namen man nicht nennt, verbrannt, und sein menschlicher Körper ist zu Staub zerfallen. Aber sein Geist ist in die Nacht aufgestiegen, hat das Firmament erleuchtet, und nun herrscht

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