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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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seiner Vorstellung erschöpft auf die Pritsche sinken, auf der er angekettet war, während Vernard ihn misstrauisch musterte.
    Die Folter hatte nicht nachgelassen, obwohl Arekh schon drei Mal abgeschworen und alle nötigen Kniefälle und Förmlichkeiten vollzogen hatte. Er hatte alle Eide geschworen, die von ihm verlangt worden waren - und das, obwohl er noch vor einem Jahr die Götter gefürchtet hatte und allein der Gedanke an einen Meineid vor ihnen ihm fürchterlicher erschienen war als jeder Mord. Und jetzt log er, log vor Götterbildern und den heiligsten geweihten Gegenständen, ohne auch nur vom Anflug eines Gewissensbisses gestreift zu werden.
    Doch trotz allem machten sie weiter und warfen ihn jeden Abend zerschlagen in seine Zelle zurück, in die sie am Ende jedes Tages auch Lionor zurückbrachten.
    Welche Qualen Arekh auch durchlebte, sie waren nicht so entsetzlich wie das, was die junge Frau durchmachte,
und er sah zu, wie sie jeden Tag weiter verfiel. Ihr Kind lebte noch, magerte aber ab und wurde immer zerbrechlicher.
    Fünf Nächte lang weigerte sie sich, Arekh anzusehen, und zischte ihm nur Beleidigungen zu, wenn er versuchte, mit ihr zu sprechen und sie zu trösten.
    »Feigling«, flüsterte sie immer kraftloser und doch immer hasserfüllter. »Feigling! Verräter! Schlange!«
    In der sechsten Nacht sagte sie nichts. Sie setzte sich, das Kind in den Armen, mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und starrte mit so leerem Blick zur Decke, dass Arekh einen Moment lang glaubte, sie sei tot.
    »Lionor«, flüsterte er, ging zu ihr und kniete sich neben sie, als er spürte, wie seine Kräfte ihn im Stich ließen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter; sie wehrte sich nicht. »Lionor … wir müssen … Marikani hätte gewollt …«
    »Sie werden mir den Kleinen wegnehmen«, krächzte sie. »Morgen. Sie haben mir gesagt, dass sie ihn mir wegnehmen werden. Um … um ihn …«
    Sie brach ab. Arekh nahm sie unbeholfen in die Arme. Lionor ließ den Kopf an seine Schulter sinken und begann wild zu schluchzen.

KAPITEL 4
    Der Armbrustbolzen drang mit einem dumpfen Knacken in Harrakins Schulter.
    Der Schmerz und der Aufprall trübten ihm den Blick, aber trotz des roten Nebels, der vor seinen Augen aufstieg, verlor er keine Zeit. »Verteilt euch!«, schrie er und presste sich die Hand auf die Schulter. »Schützt die Karawane!«
    Mit einer knappen Bewegung brach er das Holzstück ab, das noch aus der Wunde ragte, und ließ die Spitze stecken. Er presste den Schaft in der Hand zusammen, ohne sich damit aufzuhalten, ihn sich näher anzusehen; es gab Dringenderes zu tun.
    »Schnell!«, rief er, als nach der ersten Welle des Schmerzes Menschen und Landschaft langsam wieder klar zu erkennen waren. »Bildet einen Kreis!«
    »Ihr seid verletzt, Majestät!«, sagte sein Leutnant, ein braungebrannter, hagerer junger Mann, dessen Namen Harrakin nie erfahren hatte. »Wir müssen …«
    »Den Kreis!«, brüllte Harrakin und zügelte sein Pferd, das durchzugehen drohte. »Plaudern könnt Ihr später!«
    Rings um sie … nichts. Niemand. Sie waren allein, zumindest allem Anschein nach. Die königliche Karawane
und ihre Eskorte von hundertzwanzig Mann wirkten auf der staubigen Landstraße winzig: kleine, unbedeutende Kieselsteine, die von der Großartigkeit der Ausläufer der Hismark-Berge geradezu erschlagen wurden. Der Wind wirbelte Staub zwischen den hohen Klippen aus rotem Stein auf. Die Welt setzte sich aus kräftigen Farben zusammen: dem Scharlachrot und Gelb der Felsen, dem strahlenden Blau des Himmels. Die Sonne wärmte kaum, aber die Wüstenlandschaft war wunderschön. Sie bildete eine Ausnahme im Süden des Emirats: eine farbenprächtige, trockene Gegend, die niemand erobern wollte.
    Die Reiter formten einen menschlichen Schutzwall um ihren König.
    Niemand.
    Es war niemand da.
    Der Armbrustbolzen war von Nordwesten gekommen, von den hohen, roten Klippen herab. Die Angreifer versteckten sich auf dem Höhenkamm … Da , dachte Harrakin, der sich weiter die Schulter hielt, um sicherzustellen, dass er nicht zu viel Blut verlor. Ja, dort, auf dem steinigen Berggrat, dessen Felsnadeln menschenähnliche Silhouetten bildeten … Oder vielleicht auch dort drüben, hinter den rötlichen Pfeilern, oder vielleicht da, weiter nördlich, auf der ockerfarbenen Klippe, die unterhalb eines Gipfels lag.
    Hinter Harrakin hatten sich weitere Reiter um die Wagen und Sänften verteilt; die Fußsoldaten, die Murufersöhne , hatten sich zu

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