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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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immer noch; alle seine Sinne waren wach, obwohl das Pfeifen ihm in den Ohren dröhnte, ein Pfeifen, das perfekt geeignet war, zu verhindern, dass man sich konzentrierte …
    Konzentrierte und nachdachte …
    Und dass man hörte …
    Dass man was hörte?
    Du hast nichts als deine Augen , hieß es im »Lied des Kriegers«, einem Gesang über Arrethas. Ein guter Krieger hatte nichts als seine Augen … Und auch nichts als seine Ohren …
    Harrakin schloss die Augen, suchte, dachte nach, was das Pfeifen wohl verbergen sollte, spürte, dass der Leutnant ihn seltsam ansah, und …
    Die Erde zitterte.
    Der Boden erbebte wie unter sechzig oder gar achtzig
galoppierenden Reitern, die sich näherten, von Süden , von hinten, während der Armbrustbolzen und das Pfeifen dafür gesorgt hatten, dass sie ihre Aufmerksamkeit und ihre Männer auf den Norden konzentrierten.
    » Zu mir! «, schrie Harrakin, setzte sein Pferd in Bewegung und ritt zum Ende der Karawane. Die Reiter folgten ihm; sie gehorchten eher seinen Bewegungen als seinen Worten.
    Er gab seine Befehle, deutete weitere nur an, statt sie laut zu rufen, spürte das Gefühl von Dringlichkeit immer stärker, ließ die Murufersöhne nach hinten laufen, postierte die Armbrustschützen an der Flanke. Zu Harrakins Erstaunen schien der Leutnant, der ihm so töricht vorgekommen war, nun seine Gedanken zu erraten; auch er galoppierte umher, gab den Soldaten wild gestikulierend Zeichen, reihte sie im Süden auf, während die Anspannung unter dem strahlend blauen Himmel wuchs, zwischen den Felsen, die Reglosigkeit heuchelten …
    Und plötzlich waren sie da.
    Am Ende der Schlucht.
    Sie galoppierten direkt auf die Karawane zu.
    Mindestens achtzig Reiter, vielleicht sogar hundert, schwarz gekleidet, vom Staub bedeckt, den ihr Ritt aufwirbelte, verschwommen und tödlich wie Gespenster des Chaos. Das Pfeifen erstickte wie ein Nebel den Lärm ihres Herannahens, und ihre stummen Bewegungen wirkten wie verzaubert. Das waren keine gewöhnlichen Gegner, sondern Geister, ein Gespensterheer, das mit im Wind flatternden schwarzen Umhängen wie eine langsame Welle heranrollte.
    Die Reiter aus Harabec erstarrten, und die Armbrustschützen konnten ihre Hände nicht rühren, da sie zu
verstört vom Erscheinen dieser albtraumhaften Wesen waren. Und inmitten der schwarzen Masse galoppierte - oder vielmehr wogte, denn die Bewegung wirkte sehr flüssig - eine dunkle Kreatur mit gewaltigem, fließendem Körper; ihre orangefarbenen Augen funkelten wie böse Flammen.
    Der Leutnant hatte den Armbrustschützen schon zwei Mal bedeutet zu schießen, doch die Männer hatten sich nicht gerührt. Wir werden sterben , begriff Harrakin; der Schmerz in seiner Schulter strahlte mittlerweile weit aus. Wir werden niedergemetzelt werden, und das nicht, weil sie in der Überzahl sind, sondern weil das Pfeifen und das Entsetzen diese Dummköpfe lähmen.
    Harrakins Männer vergötterten ihn: Sie wären ihm in die Abgründe gefolgt, wenn er mit ihnen hätte sprechen können, um sie anzufeuern und zu beruhigen. Aber das Pfeifen, das sie verrückt machte, übertönte alle anderen Geräusche, und er konnte nicht sprechen. Oh, das war ein geschickter Schachzug! Ja, sie würden sterben, weil der Feind solch eine ausgefeilte Strategie anwendete …
    Nein .
    Harrakin geriet in Wut.
    Der König von Harabec würde nicht vor ein paar Reitern und einem Musikinstrument kapitulieren. Er hatte schon ganz andere Dinge erlebt; seine Soldaten ebenfalls. Wenn er schon nicht zu ihnen sprechen konnte, dann konnte er doch wenigstens …
    Er konnte ihnen anders Mut einflößen.
    Harrakin zwang sein Pferd, sich theatralisch aufzubäumen, reckte das Schwert mit trotziger Gebärde hoch und ritt dann zwei Mal vor seinen Soldaten auf und ab.

    Dann, als alle Blicke auf ihm ruhten, wendete er sein Pferd und stürmte allein geradewegs auf den Feind zu.
    Er galoppierte mit erhobenem Schwert den Reitern entgegen. Allein gegen achtzig. Er hatte nicht vor zu sterben - nicht, wenn er es vermeiden konnte! -, aber wenn dies der einzige Weg war, seinen Männern ein wenig Mumm in die Knochen zu treiben, dann …
    Dann würde er - bei den Göttern, die heute von der Sonne geblendet wurden! - diesen »Kreaturen« schon zeigen, wie ein Sohn des Arrethas zu sterben wusste.
    Noch vierzig Schritt. Seine Gegner waren bloß noch eine dunkle, staubige Linie, eine unförmige Masse, aus der nur die wandelbare Gestalt der feueräugigen Kreatur hervorstach.
    Zwanzig

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