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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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junge Frau schon dabei, auszusteigen; sie hatte einen zierlichen Schuh auf das Trittbrett gesetzt, und ihre Zofen drängten sich um sie.
    »Sind wir in Gefahr?«, fragte sie und schüttelte mit einem schüchternen Lächeln die Locken.
    »Bei Fîr!«, stieß Harrakin hervor und wendete sein Pferd, um die Karawane entlangzureiten. »Geh zurück in die Sänfte, Samia, oder ich schaffe dich selbst wieder hinein!«
    Die junge Frau kehrte sofort zitternd um. Harrakin bereute, einen solch heftigen Ton angeschlagen zu haben: Man durfte eine Frau nicht in Gegenwart Untergebener
demütigen. Besonders, wenn diese Frau eine entfernte Verwandte von königlichem Blut war und gute Chancen hatte, einmal seine Gemahlin zu werden.
    Wenn sie denn wirklich ein Kind von ihm erwartete und dieses Kind ein Sohn war.
    Aber Harrakins Schulter peinigte ihn, die Lage war ernst, und Samias Beschränktheit und Langsamkeit machten ihn manchmal so gereizt, dass er ihr gern eine Ohrfeige versetzt hätte, wenn er nicht gewusst hätte, was er seinem göttlichen Ahnherrn schuldig war.
    Am hinteren Ende der Karawane angekommen, wendete er das Pferd erneut und ritt an der rechten Flanke zurück.
    Auf den Ockerklippen rührte sich immer noch nichts.
    Nicht einmal ein Windhauch.
    »Majestät«, flüsterte der Hauptmann der Murufersöhne, der ihm entgegenkam. »Wir sollten wieder aufbrechen. Sicher waren das nur einige vereinzelte Banditen, die geflohen sind, als ihnen klar wurde, mit wem sie es zu tun haben. Und davon abgesehen« - er wies auf Harrakins Arm - »sollte sich der Wundarzt das hier …«
    »Noch nicht«, sagte Harrakin und suchte die Berge mit Blicken ab.
    Nein . Das waren keine vereinzelten Räuber, und es war auch niemand geflohen. Das sagten ihm all seine Instinkte.
    Die Stille lastete zu schwer.
    Ein Geräusch …
    Kaum hörbar, wie ein Pfeifen. Der Hauptmann hielt den Atem an, seine Soldaten erstarrten, erst nur wenige, als das Pfeifen noch leise war, dann alle, mit angsterfüllten Augen. Das Geräusch schwoll immer weiter an, ließ
ihre Ohren vibrieren, dass es fast schon schmerzte. In der Karawane begannen die Frauen zu schreien.
    »Ruhe!«, brüllte Harrakin zu den Sänften hinüber, aber das Pfeifen war mittlerweile zu laut, und niemand hörte ihn.
    An seiner Seite gerieten die Männer in Panik, das spürte Harrakin fast körperlich. Sein Pferd bäumte sich ängstlich auf und tänzelte über den sandigen Boden; Harrakin vermochte es nur mühsam wieder zu zügeln. Durch das unwirkliche Pfeifen hindurch konnte er gerade noch das Wiehern der Tiere und die schrillen Schreie der Frauen wie ein Hintergrundgeräusch hören …
    Er konzentrierte sich, versuchte, die Ängste zu ignorieren, die in ihm wach wurden: Erinnerungen an alte Ammenmärchen über entstellte Geschöpfe, Bastarde aus Verbindungen zwischen Menschen und Kreaturen der Abgründe, die die Gerechten mit ihren verfluchten Gesängen in die Klüfte lockten.
    » Da drüben! «, schrie ihm der Leutnant ins Ohr. Harrakin hatte ihn nicht herankommen hören und erriet seine Worte eher, als dass er sie verstand. Rings um sie hielten Soldaten sich die Ohren zu, ließen die Waffen fallen, zitterten und schrien. Der Leutnant deutete auf einen Bergkamm im Osten, der dem Platz, von dem der Armbrustbolzen abgeschossen worden sein musste, gegenüberlag. Das Pfeifen … von da oben … eine Spur … Angriff …
    Er sagte nur wenig, aber Harrakin verstand und schüttelte den Kopf, um den Mann davon abzuhalten, zum Angriff auf den Berg zu blasen. Der Leutnant protestierte, beharrte, das entnahm Harrakin seinen Gesten und seinem Gesichtsausdruck; er sagte sicher, dass die Feinde sich dort oben an dem Ort, von dem das Pfeifen
kam, befinden mussten, so dass man sie ebenso gut angreifen konnte: losstürmen und den Hang hinaufklettern, bevor die feindlichen Bogenschützen sie alle aus der Ferne niedermetzelten. Und Harrakin, der den Schmerz ganz vergessen hatte, spürte plötzlich etwas Feuchtes auf seinem Hemd. Blut. Diesmal floss das Blut kräftig, durchtränkte langsam seine Kleidung, und sein Arm wurde taub. Hoffentlich war der Bolzen nicht vergiftet , dachte er und kämpfte gegen eine leichte Benommenheit an.
    Der Leutnant hob den Arm, wollte den Befehl zum Angriff geben.
    » Nein «, sagte Harrakin schlicht.
    Der Offizier erstarrte. Er konnte die Antwort nicht gehört haben, hatte sie aber in den Augen seines Königs gesehen.
    »Nein«, wiederholte Harrakin an sich selbst gewandt. Er lauschte

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