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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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Er zögerte. »Manchmal hat man keine Wahl.« Er ließ den Kopf wieder zu Boden sinken und fiel aufs Neue in unruhigen Schlaf.
     
    Die Nacht auf dem Fluss.
    Marikani und Bara hatten den See auf einem schmalen Boot verlassen. Vor dem Aufbruch hatten die Verbannten Marikani in einen weiten, grauen Witwenschleier gehüllt. Der Stoff verbarg ihr Gesicht und ihre Haare; eine Frau hatte ihr Seife gegeben, damit sie sich die nur aufgemalte Löwinnentätowierung aus dem Gesicht waschen konnte.
    Es herrschte völlige Stille. Drei Verbannte ruderten.
    Während das Boot sich entfernt hatte, hatten sie am Ufer des Sees Männer des Emirs zum Hafen laufen sehen. An der Mündung des Flusses waren sie sogar einem der Schiffe aus Faez begegnet; auf den Segeln war das Zeichen der Sonne eingestickt gewesen. Aber niemand hatte ihnen bedeutet, haltzumachen.
    Das Boot war langsam an dem vor Soldaten überquellenden Schiff vorbeigeglitten und hatte sogar seinen Rumpf gestreift. Die Seeleute hatten ihnen noch nicht einmal einen Blick geschenkt.
    Bara und Marikani hatten den Atem angehalten. Ihre Körper hatten sich gleichzeitig verkrampft und wieder entspannt, als das Boot endlich im Kielwasser des großen Schiffs gewesen war. Ihre Herzen hatten im gleichen Takt geschlagen.

    Die drei Verbannten waren wortlos und ohne jede Regung weitergerudert.
    Dann waren sie in der bläulichen Nacht an der Flussmündung auf ein anderes Boot gestiegen, das mit einer anderen Mannschaft schon dort auf sie gewartet hatte.
    Sie waren zurück nach Norden gefahren.
    Marikani starrte aufs schwarze Wasser und ließ ihre Finger hindurchgleiten.
     
    Die Tür zum Gang öffnete sich abrupt. Lionor fuhr aus dem Schlaf hoch und begann zu schreien, ohne wieder aufhören zu können. Arekh versuchte sich aufzusetzen, aber ihm war zu schwindlig. Schritte. Zwei Männer, dem Geräusch der Stiefel nach zu urteilen. Lionor kroch bis ans Ende der Zelle und presste ihr Kind an sich. Es war nicht die übliche Zeit, das wussten Arekh und sie beide.
    Es war zu früh.
    Wenn es nicht um die Folter ging, dann …
    »Nein!«, schrie Lionor und umklammerte das Kind; sie wurde von Zuckungen geschüttelt und schien nahe daran, sich zu übergeben. »Nein …«
    Arekh sah sich selbst wie in einem Traum aufstehen, den Soldaten, die hereinkamen, den Weg verstellen und gegen sie kämpfen, sie einen nach dem anderen niedermetzeln; er sah sie mit gebrochenen Knochen fallen, während er seine eigenen Ketten und die Lionors sprengte, sah sich den Korridor hochlaufen und die junge Frau mitziehen, machte eine rasche Bewegung, um die drei Stufen hinaufzuspringen, die zur Metalltür am Ende des Ganges führten … Sein Körper bäumte sich auf …
    Und er begriff, dass dies alles nur eine Illusion gewesen war, die sein Delirium hervorgebracht hatte. Er hatte
sich gar nicht vom Boden erhoben. Er hatte nicht einmal aufstehen können …
    Die Zellentür schwang auf.
    »Hoch mit euch beiden!«, sagte einer der Männer und achtete nicht auf Lionors Schreie. »Ihr werdet oben erwartet.«
     
    E-Fîr sank am Horizont, als Marikani und Bara das Schiff des Herrn der Verbannten erreichten.
    Wie vor zwei Jahren in der Tränenstadt handelte es sich nicht um ein Fischerboot, sondern um ein richtiges Schiff, das dazu gedacht war, dem Wüten des Ozeans zu trotzen, ein Schiff, neben dem die der Flotte auf dem See von Faez wie ein schwacher Abglanz wirkte, Spielzeuge für adlige Knaben, die eine Seeschlacht nachstellen wollten. Was machte dieses Segelschiff Hunderte von Meilen im Landesinneren, ans Ufer eines schlammigen Deltas gezogen und vom Licht der Zwergglühwürmchen erhellt, kleiner, phosphoreszierender Insekten, die um die Flammen der Laternen auf der Brücke tanzten? Es war da, es war schon immer da gewesen - das schien zumindest sein auf Grund gelaufener Rumpf zu besagen. Es gehörte zur Landschaft wie der Stechginster und die verkümmerten Bäume.
    Das Boot kam zum Stillstand.
    Um sie herum plätscherte leise das Wasser und spiegelte die schwindende Dunkelheit wider. Die Nacht war schon nicht mehr ganz rein; der erste, ferne Schimmer des Tages hatte sie befleckt. Die Spiegelbilder der bläulichen Nebel, die den türkisfarbenen Stern ersetzt hatten, zerfaserten im Wasser und verloren etwas an Substanz.
    Von der Brücke wurde eine Strickleiter herabgelassen,
und die drei Verbannten sahen Marikani an, und sie erwiderte ihren Blick mit einem Gefühl der Unwirklichkeit. Wo war sie und warum? Gab es an diesem

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