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Volk der Verbannten

Titel: Volk der Verbannten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ange Guéro
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mussten Verabredungen
einhalten. Sie hatten keine Zeit, blutige Wunden oder scheußliche Verletzungen anzustarren, wenn Gefangene verlegt wurden.
    Arekh war einst einer von ihnen gewesen. Auch er war damals mit Schriftrollen in der Hand die Galerie entlanggeeilt, hatte hübsche Frauen zum Ausgang begleitet, mit denen Ratsherr Im-Ahr, für den er gearbeitet hatte, die Nacht verbracht hatte. Er hatte noch mehr getan: Er hatte unter den Säulengängen und in den Vorzimmern Schmiergelder und Verrätereien zugunsten seines Herrn ausgehandelt, er hatte getötet und töten lassen, Gesandtschaftsmitglieder ebenso wie Zeugen … Einmal hatte er sogar einen Ratsherrn getötet, weil Im-Ahr mit einem Brückenbau westlich seiner Ländereien nicht einverstanden gewesen war, durch den eine wichtige Handelsroute ihre Bedeutung eingebüßt hätte. Im-Ahr hätte ein Vermögen an Wegzöllen verloren.
    Arekh hatte den Ratsherrn eigenhändig erwürgt, der das Vorhaben unterstützt hatte. Wie hatte er noch geheißen? Maran oder Mayran, es war ein Name aus dem Norden gewesen. Er hatte ihn mit einer Metallkordel unter einem Bogengang erdrosselt, ganz in der Nähe der weinrot lackierten Holztür, die in die Ganglabyrinthe unter dem Ratsgebäude führte.
    Auch er war gefolterten Gefangenen begegnet, Kriminellen, Häretikern oder »um der Ehre der Stadt willen« Festgehaltenen, was eine poetische Umschreibung dafür war, dass die armen Schweine nichts angestellt hatten: Ihr einziges Verbrechen bestand darin, dass sie über Informationen verfügten, die den Fürstentümern nützen konnten, so dass die Henker alle möglichen Methoden zum Einsatz bringen würden, um sie zum Reden zu zwingen,
bevor sie ihre Leichen in einem Befestigungsgraben verrotten ließen.
    Arekh hatte selbst auch den Blick von den geschwollenen Gesichtern, zusammengeketteten Füßen, Verletzungen und Tränen dieser Menschen abgewandt, die ihm manchmal in der Galerie begegnet waren … Aber anders als im Falle der Assistenten, die nun an ihm vorbeikamen, war das nicht aus Gleichgültigkeit oder Gewohnheit geschehen, sondern aus Angst. Auf seinen Kopf war wegen Vatermordes ein Preis ausgesetzt gewesen, und obwohl noch niemand im Regierungsviertel seine wahre Identität gekannt hatte, hatte ihn dann und wann ein dumpfes, verzehrendes Entsetzen überkommen. Der Magen hatte sich ihm zusammengekrampft, wenn er sich vorgestellt hatte, dass seine Vergangenheit ihn einholen und er so wie diese Gefangenen enden würde.
    Jetzt war es so gekommen.
    Er würde enden wie sie; der Kreis seines Schicksals hatte sich geschlossen.
    Plötzlich bogen die Wachen ab, um sie durch eine kleine, weiße Tür zu führen.
    Der Korridor gehörte zum Nordflügel des Gebäudes für die fremden Gesandtschaften. Sie kamen durch gewaltige Vorzimmer, deren Fußböden mit Teppichen bedeckt waren, während Fîrs stilisiertes Gesicht sie von den Deckenmosaiken herab beobachtete. Die jahrhundertealten Statuen berühmter Ratsherren und Senatoren und die Skulpturen der würdevollen Körper der besten Athleten warfen ihnen eisige Blicke zu.
    Wieder stiegen sie höher hinauf. Diesmal waren die Treppen aus Marmor und die Wände mit Basreliefs verziert. Licht flutete durch breite Fenster herein.

    Im vierten Stockwerk, das, wie Arekh wusste, zugleich das höchste des Gebäudes war, kamen sie zu einer Säulenreihe, die anzeigte, dass hier die Gemächer einer ausländischen Gesandtschaft begannen. Dahinter würden sie nicht mehr ganz in Reynes sein, sondern auf einer Art neutralem Gebiet, in einem »Niemandsland«, in dem sich die Fürstentümer und das Königreich, dem die Gemächer zugewiesen worden waren, die Macht teilten.
    Zwischen den Säulen hingen zarte Organzabahnen in Violett und Ziegelrot.
    Die Soldaten hoben sie an.
    Und die Gefangenen fanden sich in Harabec wieder.
    Die Statue des Gründergottes Arrethas, der ein Schwert in der einen und einen Saani-Zweig in der anderen Hand trug, ragte zwischen zwei Türen auf; das Wappen der Stadt Harabec und das des Gottes waren in die linke Wand eingemeißelt. Lionor keuchte überrascht und wimmerte dann. Ein Wachsoldat stieß sie vorwärts, und sie wäre beinahe gestürzt. Arekh fing sie auf. Sie riss sich heftig von ihm los, bevor sie das Vorzimmer der Ratsräume betraten.
    Wände in einem beinahe grellen Orange. Sonnenschein, der sich über das Parkett und die üppigen Teppiche ergoss. Ein Tisch, auf dem eine dampfende Teekanne, Gebäck und drei Karaffen Schaumwein

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