Volk der Verbannten
der Nähe, jenseits des Kais.
Die Glocken läuteten noch immer den durchdringenden, misstönenden Hâla, aber Marikani achtete nicht darauf. Sie deutete auf ein kleines Grüppchen, das auf den Holzstegen stand, die die Boote mit dem Festland verbanden.
»Und sie warten auf uns«, fügte sie hinzu. »Schau! Sie suchen uns.«
Dort drüben waren etwa ein Dutzend Verbannte. Sie schienen in der Tat auf etwas zu warten und musterten die Passanten, die erschrocken stehen blieben, um dem Klang der Glocken zu lauschen. Eine zerlumpte Schar von städtischen Kindern und Jugendlichen trieb sich auf dem Kai herum und wartete anscheinend auf Befehle - sicher waren das die Boten, die den Verbannten des Hafens die Nachricht schneller gebracht hatten, als Marikani und Bara den Abhang hatten hinunterlaufen können - schneller sogar, als die Patrouillen gewesen waren. Die Straßenkinder hatten sicher Abkürzungen und geheime Wege genommen, die niemand bis auf die Diebe und Bettler kannte.
Baras Gedanken schienen in dieselbe Richtung zu
gehen, denn er sagte: »Wir müssen dorthin. Binnen weniger Augenblicke wird es in der Stadt von Soldaten wimmeln.«
Marikani nickte. Dann trat sie ohne ein überflüssiges Wort ins Freie und begann, den Kai zu überqueren und auf die Boote zuzugehen.
Bara folgte ihr in fünf Schritten Abstand.
Das Fischerboot wartete rechts. Marikani setzte ihren Weg fort und fühlte sich auf der großen Steinfläche plötzlich sehr ausgeliefert. Aber niemand sah sie an; die Passanten waren von den Glocken zu sehr in Angst und Schrecken versetzt, und ihre Blicke gingen zum Tempel, zur Innenstadt.
Ein Mann stürmte plötzlich aus einer Gasse, keine zehn Schritte von Marikani entfernt.
Yassî Eh Mered.
Außer Atem, schweißüberströmt, allein.
Er musste fast den gleichen Weg genommen haben wie sie. Marikani wandte sofort das Gesicht ab, ging so natürlich wie möglich weiter und hoffte, dass er nur ihren Rücken sehen würde.
Sie hörte trotz der Glocken, wie der junge Offizier über das Steinpflaster hinter ihr lief … und stehen blieb. Er blickte sich sicher um, musterte die Passanten. Er hatte sie wohl wie durch ein Wunder nicht gesehen.
» Ihr! «, sagte er plötzlich aus drei Schritten Entfernung.
Marikani fuhr zusammen und wirbelte zu allem bereit herum - aber es war Bara, den Yassî Eh Mered gesehen hatte und nun am Arm gepackt hielt, während er sich umdrehte, um Hilfe herbeizurufen.
Marikani reagierte, ohne nachzudenken. Binnen eines Herzschlags hatte sie sich auf den Offizier gestürzt und
seine Haare gepackt. Yassî Eh Mered hob die Hand, um sich zu schützen, aber es war zu spät. Marikanis Dolch war ihm bereits in die Brust gedrungen, direkt ins Herz.
Der junge Offizier hustete und spuckte Blut, während seine Augen sich mit schmerzerfülltem Blick auf die junge Frau richteten.
Dann fiel er.
Marikani stand mit zugeschnürter Kehle wie erstarrt da.
»Die Sonne strahlt über unserer Begegnung«, murmelte sie.
Und so blieb sie stehen, während das Blut von der Klinge in ihrer Hand tropfte, bis Bara sie packte und auf das Boot der Verbannten zuschleifte.
KAPITEL 6
Am folgenden Morgen hatte Lionor ihr Kind noch immer. Die Seelenleser ließen es ihr für eine Woche und lachten über ihre Panik und ihre Angst. Jeden Abend kündigten sie an, ihr das Kind am folgenden Morgen nehmen zu wollen. Lionor schlief kaum; sie zitterte vor Furcht und schrie im Schlaf. In den ersten Nächten versuchte Arekh unbeholfen, sie zu trösten, aber bald fehlte ihm die Kraft dazu.
Lionor war dabei, den Verstand zu verlieren, und ihm ging es ähnlich; er vergaß bereits die Wirklichkeit und seine Vergangenheit.
»Ist das die Mühe überhaupt wert?«, fragte Lionors Stimme in der siebten Nacht.
Arekh schlief, aber sein Schlaf war von Bildern der Folter und der düsteren Wände seiner Zelle bevölkert. Als er die Augen öffnete, änderte sich seine Umgebung nicht. Hatte er wirklich geträumt oder hatte er wach dagelegen, seit man ihn nach dem täglichen Verhör hier auf den Boden geworfen hatte?
»Was? Was ist die Mühe wert?«, stammelte er heiser.
»Marikani. Ist sie die Mühe wert? All dieses Elend?« Der Säugling hustete; der Husten wirkte zu stark, zu zerreißend
für seinen kleinen Körper. Lionor wies mit dem Kinn auf ihn. »Sein Leben? Ist Marikani unser aller Leben wert? Das meines Kindes?«
Arekh versuchte zu lachen, aber die Kehle tat ihm weh. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Es ist mir egal.«
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