Volksfest
Angst. Immer schon gehabt.
Einmal war er hier schon gestanden, von seinem Vater hergeschickt, und hatte sich genauso gefürchtet wie jetzt. Damals war er verpflichtet worden, der Gemeindesekretärin auszurichten, sein Vater halte es wirklich für eine Sauerei, dass die Straßenbeleuchtung in der Sackgasse nun schon den dritten Tag nicht funktioniere. Eine Beschwerde, die er natürlich auch am Telefon während der Amtsstunden hätte vorbringen können, was allerdings mit dem Nachteil verbunden gewesen wäre, dass er sie dann selbst hätte vorbringen müssen. An dieser Überlegung seines Vaters und der daraus resultierenden Schlussfolgerung war recht schön zu erkennen, woher Suchanek sein überbordendes Kommunikationstalent hatte.
Die Gerstmeierin hatte das sicher schon längst vergessen; die hatte sich ja ihr Lebtag ohnehin viel mehr merken müssen als der Suchanek, und so ein Highlight war es für sie ja nicht gewesen, als der kleine Schüchterne sich auftragsgemäß, aber sehr leise über die finstere Sackgasse beschwert und sie darauf geantwortet hatte: «Na und? Müsst’s ihr im Dunkeln da unbedingt noch umeinanderrennen?»
Sie war schon eine Strenge. Auch sich selbst hätte sie nie eine Schwäche zugestanden. Sich zum Beispiel nach dem Tod vom Jürgen in einen tröstlichen Irrsinn zu flüchten, wie es die Lengauer Milli getan hatte, nachdem ihr Edwin an den Baum gefahren war – nein. Nicht mit der Gerstmeierin.
Der Gerstmeier Jürgen war nach dem Hansi Burli der zweite von den Wulzendorfer Burschen gewesen, der auf der Straße gestorben war. Damals, zur Zeit der Brände war das gewesen. Daran erinnerte sich Suchanek genau. Zuerst das Feuer beim Fünfer, dann beim Ranreiter, dann der Unfall vom Jürgen, und dann hatte es beim Palenak gebrannt, alles innerhalb von ein paar Monaten. Wobei, streng genommen war der Jürgen ja gar nicht auf der Straße gestorben. Es sei denn, er war beim Aufprall auf die Leitschiene mitten auf der Gantersburger Donaubrücke schon tot gewesen. Und nicht erst zwanzig Meter tiefer. Im Fluss.
Suchanek war damals mit seinen Eltern extra zur Anlegestelle von der alten Rollfähre gefahren, um zuzuschauen, wie der Bergekran das Auto wieder rauszog. Wieso die Leitschiene das Auto nicht ausgehalten hatte, fragte sich damals nicht nur die Gerstmeierin. Aber der Lengauer Edwin, der damals bei der Straßenmeisterei gearbeitet hatte, meinte, das sei einfach höhere Gewalt gewesen. Ein Riesenpech halt. Und ein paar Jahre später hatte er es selber, das Riesenpech. Mit dem Kirschbaum.
«Die Wahrheit wird man ja wohl noch sagen dürfen», sagte die Gerstmeierin also die Wahrheit.
«Eleonore, das findest du, und das finde ich auch. Aber die meisten wollen die Wahrheit ja nicht hören. Im Gegenteil: Wenn du die Wahrheit sagst, bist du der Böse.»
«Ja, Ansgar. Leider. Aber du weißt ja, wie das ist mit den Propheten im eigenen Land.»
Ansgar? Wie sehr müssen Eltern ihr Kind hassen, um ihm lebenslang so einen Namen umzuhängen? Warum hatten sie Ansgar nicht gleich nach der Geburt in der Regentonne ertränkt? Kein Wunder, dass aus dem Palenak so ein frustrierter Bioheini geworden war, der aussah, als würde er jede Sekunde an Auszehrung sterben. Und der mit niemandem zurechtkam. Außer mit der Gerstmeierin, wie es aussah. Und das war ja an sich schon ein Wunder.
«Und du meinst wirklich, wir sollten weitermachen?», frug der Palenak artig.
«Ja. Wir halten uns an den Plan. Für mich ist das ein Heiliger Krieg. Und du wirst sehen: Wir werden gewinnen.»
«Wir sind schließlich die Guten.»
«Oh ja. Auch wenn die anderen das nicht einsehen wollen. Aber wir sind definitiv die Guten.»
Wie sollte Suchanek das jetzt wieder verstehen? Einmal gänzlich abgesehen davon, dass er es gar nicht hätte hören sollen und somit von Verstehen ja auch nie die Rede gewesen war.
«Und du meinst nicht, dass wir noch ein wenig warten sollten? Bis sich die ganze Aufregung wieder gelegt hat? Ich will nichts überstürzen. Wenn wir zu schnell sind, gefährden wir am Ende das ganze Projekt.»
Projekt? Was für ein Projekt denn?
«Schau, wenn es nicht klappt und wir uns eine blutige Nase holen, dann war die Welt für unsere Ideen halt noch nicht bereit. Aber ich will mir nicht irgendwann einmal den Vorwurf machen müssen, ich hätte es nicht wenigstens versucht. Das wäre doch eine Sünde.»
«Ja», raunte Palenak bedeutungsschwanger, «das wäre es. Eine Sünde. Also gut. Morgen bin ich so weit. Und den
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