Volksfest
Geschichte.
An sich, so verlangte es jedenfalls die Tradition, folgte auf die Wulzendorfer Autoweihe immer der Frühschoppen. Jetzt musste man schon sagen, dass das früher, bevor der Ziehrer-Wirt zugesperrt hatte, atmosphärisch schon noch etwas anderes gewesen war. Da hatte die Trachtenmusikkapelle Wulzendorf im Festsaal aufgespielt, der zwar so festlich zugegebenermaßen auch wieder nicht gewesen war, aber im Vergleich zur Jetztzeit im Bierzelt allemal. Außerdem hatte nach drei Tagen Volksfest in dem Zelt doch nun schon wirklich jeder in praktisch jede Ecke gespieben. Da war auch der Reiz des Neuen nicht mehr so.
Aber heute, an diesem letzten Tag dieses unpackbaren Volksfestes, war ja sowieso alles anders. Heute wurde, so traurig es für die Traditionalisten war, und von denen gab es ja doch ein paar, mit der Tradition gebrochen. Das Fest hatte sich bis jetzt mehr als wacker geschlagen und trotz der ausgesprochen widrigen äußeren Umstände zu einem neuen Rekordergebnis geführt. Aber jetzt, jetzt war einfach nichts mehr zu machen.
Jetzt war Schluss.
Die malerischen Mädchen und die beliebten Burschen von der Musik standen unschlüssig herum und ließen die Klarinetten traurig hängen. Der Achter-Hiefler, nicht nur der sicherlich aufregendste Kirchenorganist Niederösterreichs, sondern auch noch das tragendste Flügelhorn seit der Erfindung der Trachtenmusikkapelle, stand mit sorgenvoller Miene da, die blaue Kappe weit in den Nacken geschoben, und spielte nervös mit dem ausnahmsweise einmal leeren Spuckeablassventil seines Instruments. Der Bub vom Lasnik Pepi, ein vielleicht sechsjähriger weißblonder Wirbler, der das Wagerl mit der großen Trommel zog, schaute gedankenverloren ins Narrenkastl, hatte dabei eine Hand in seiner Knickerbocker und kratzte sich die Eier.
Jetzt hätte die Trachtenmusikkapelle zwar an sich den Ausfall der zweiten Posaune schon verkraften können. Hätte halt der Achter ein wenig lauter geblasen. An laut sollte es bei ihm nun wirklich nicht scheitern, denn seine sympathische Inbrunst war legendär. Aber einfach so den Brucker Lagermarsch einzählen, obwohl der Gärtner Bertl verschwunden war? Und Gott allein wusste, was mit ihm passiert war? Wie hätte das denn wieder ausgeschaut?
Wobei, natürlich: So ganz allein war Gott mit diesem Wissen klarerweise nicht. Wenigstens einer musste ja sonst wohl noch wissen, was mit dem Bertl passiert war. Aber der würde in dieser Angelegenheit sicherlich mindestens genauso dichthalten wie Gott.
Von demselben Platz aus, von dem vorhin Pater Akwuegbu so ergreifend Vergebung für den Sünder gefordert hatte, der Wulzendorf in Atem hielt, tat jetzt der Siebzehner, der natürlich spürte, dass er, wenn er jetzt Führungsqualität und Standhaftigkeit bewies, gute Aussichten hatte, quasi zum Ortsvorsteher auf Lebenszeit ernannt zu werden, so ziemlich genau das Gegenteil.
«Liebe Mitbürger! Jetzt hat die Bestie schon wieder zugeschlagen!», bellte er hinter dem schönen Feldaltar vom jungen Zwölfer hervor in das Megaphon. «Ich sage: Es ist genug! In dieser für Wulzendorf so schweren Stunde müssen wir die Reihen schließen und zusammenhalten! Wir dürfen da nicht mehr länger zuschauen!»
«Genug!» – «Jawohl!» – «Bestie!», antwortete es aus der Menge.
«Es ist doch immer das Gleiche: Wenn wir anständigen Bürger wollen, dass was passiert, müssen wir die Sache selber in die Hand nehmen. Da ist es ganz egal, ob es um unser Selbstbestimmungsrecht geht oder um unser Selbstverteidigungsrecht. Fest steht: Wir müssen etwas unternehmen!»
Tosender Applaus, der mindestens so sehr der Selbstbestimmung wie der -verteidigung galt. In Bernhardsau nämlich wäre der Täter sicher schon längst gefasst gewesen. In Bernhardsau musste sich nämlich der anständige Bürger nicht jeden Tag seine Freiheit aufs Neue erarbeiten und in der verbleibenden Zeit bis zum Beginn des Hauptabendprogrammes auch noch in einen Kampf auf Leben und Tod ziehen. Und in Bernhardsau war sicher auch das Wetter besser.
Suchanek und Grasel standen beim Bull-o-Meter, einer sinnigen Erfindung auf dem spaßigen Kraftsportsektor, bei der man zwei Griffe, die die Form von Stierhörnern hatten, zusammendrücken musste und anschließend eine Bewertung bekam, die selten über «Muskelmus» oder «Bizepsbaby» hinausreichte, weil das für den Ehrgeiz und damit die weitere Spendenbereitschaft der männlichen Probanden doch sehr förderlich war. Und obwohl die beiden keine
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