Voll gebissen
drängelte Kyle sich auch schon schnuppernd an mir vorbei und fand sich in der Küche ein. Amilia und ich folgten ihm. Als auch wir in der Küche ankamen, saß Kyle bereits auf meinem Platz und schaufelte sich ein Kuchenstü ck rein.
„Du hascht mir gar nischt erzählt, dass deine Mama so gut backen kann“, schmatzte Kyle, während meine Mutter ihn verzückt anlächelte. Wenn sie auf eins stand, dann waren es Komplimente.
„Nimm dir ruhig noch eins“, zwitscherte meine M om und legte Kyle noch ein Stück auf den Teller, den er ihr fordernd entgegenhielt.
Amilia drückte mir derweil ein Geschenk in die Hand. „Hier , von Kyle und mir.“
Sie hatten mir sogar ein Geschenk mitgebracht? Übe rrascht und neugierig zugleich packte ich es aus. Nanu? Ein schwarzer Stofffetzen? Was sollte ich denn damit? Unbeholfen drehte ich ihn in der Hand hin und her, doch ich wusste nicht, was das sein sollte.
Mitleidig nahm mir Amilia das Stück Stoff aus der Hand, fasste es gekonnt an zwei Enden und hielt es in die Höhe.
Ein „Oh“ entfuhr mir. Was Amilia da in den Händen hielt, war ein typisches Amilia Oberteil. Aufreizend und sexy. Jedenfalls für Leute, die Amilia hießen. An Normalos wie mir sah das vermutlich eher billig aus. Außerdem fragte ich mich gerade, wann ich sowas je anziehen sollte.
„Ähm , vielen Dank. Das ist … sehr… schön?“ Versehentlich klang der letzte Satz eher wie eine Frage, anstatt wie eine Aussage.
Amilia winkte ab un d trank ein Schlückchen Kaffee.
„Gern gescheh en!“, schmatzte Kyle, immer noch Kuchen essend.
„Ist das Et…“ Amilia räusperte sich, „Ist der Wagen draußen deiner?“, fragte sie. Irgendwie klang die Frage schnippisch.
Ich nickte. „Das ist Hugo. Den hab e ich zum Geburtstag bekommen.“
Kyle grun zte. „Hugo?“
„Der ist ... ähm … nett“, sagte Amilia zögernd. Wieder erntete ich ein mitleidiges Lächeln.
Ich bedankte mich für das Kompliment, auch wenn ich genau wusste, dass das keineswegs höflich gemeint war. Ich meine, hallo? „Nett“. Jeder wusste doch, dass „nett“ die kleine Schwester von „scheiße“ war.
Der Nachmittag verlief ziemlich schleppend. Obwohl wir nur in der Küche saßen, empfand ich das als sehr a nstrengend. Liam saß neben mir, hatte den Arm um mich gelehnt und versuchte Amilias Blicken auszuweichen, die ihn immer wieder anzwinkerte, während sie angewidert Schlückchen für Schlückchen aus ihrer Kaffeetasse nippte, als hätten wir sie vergiften wollen (was übrigens keine schlechte Idee gewesen wäre, wenn ich ihre liebreizenden Blicke gegenüber Liam betrachtete).
D er Einzige, der sich in dieser Konstellation wohlzufühlen schien, war Kyle. Nachdem er ungefähr 5 Kuchenstücke verputzt hatte, war er zu Broten übergegangen, die meine Mutter ihm geschmiert hatte. Ich fragte mich, wie ein Mensch so viel essen konnte, ohne dabei hinter sich auf den Stuhl zu kacken. Umso fraglicher war, wie Kyle so eine Figur dabei behalten konnte. Er musste eine wahnsinnige Verbrennung haben. Der Nachmittag kroch dahin, ohne dass sich eine richtige Unterhaltung entwickelte. Ich glaubte, selbst mit meiner nervigen Verwandtschaft hatte ich noch nicht solch einen verkrampften Geburtstag erlebt.
Als es anfing zu dämmern, griff Liam plötzlich nach seiner Lederjacke und sprang von seinem Stuhl auf. Verwundert schaute ich ihn an.
„Wo willst du denn hin?“
„Schau mal auf die Uhr. Es ist schon spät.“
Ich warf einen Blick auf meine neuerworbene Armban duhr, doch nicht die Uhrzeit stach mir ins Auge, sondern der kleine Vollmond, der auf dem Ziffernblatt signalartig prangte. Ich begriff. Das hatte ich völlig vergessen. Musste denn ausgerechnet heute Vollmond sein? Ich seufzte laut. Ich wollte nicht, dass Liam schon ging. Und schon gar nicht wollte ich, dass ich mit Amilia weiterhin hier sitzen musste – ohne Liam. Meine Mutter hingegen verstand rein gar nichts. Wie sollte sie auch? Außer mir wusste niemand etwas von Liams kleinem Geheimnis.
„Du musst schon gehen?“, fragte sie verblüfft, „heute?“
Liam nickte. „Ich muss noch weiter zu meiner Tante. Die hat ebenfalls Geburtstag und wäre sehr unglücklich, wenn ich nicht wenigstens zum Gratulieren vorbeikäme.“
„Ach so“, nickte meine Mutter, „sehr anständig von dir, Liam.“
Es überrascht e mich immer wieder, wie gut er sich mit seinem Leben arrangiert hatte. Um Ausreden war er nie verlegen und auch Lügen kamen ihm genauso leicht über die Lippen,
Weitere Kostenlose Bücher