Voll Speed: Roman (German Edition)
kurz erwähnen, sehen uns zwar ähnlich, sind allerdings Nagetiere. Für Rocky so etwas wie eine niedere Spezies. Der Vergleich mit ihnen also eine dreiste Beleidigung. Unser Clanchef bläst sich bereits auf, doch es gelingt mir, ihn zur Seite zu zerren, bevor er größeren Schaden anrichten kann.
»Warum gehst du dir nicht die Skorpione ansehen, bis wir hier fertig sind?«, schlage ich vor.
Das bringt ihn sofort auf andere Gedanken. »Hier gibt’s Skorpione?«, fragt er.
»Hier gibt’s alles«, antworte ich. »Skorpione, Spinnen … Schau mal da drüben.« Ich deute auf ein Terrarium am Ende des Ganges. »Stabheuschrecken. Viel Spaß beim Suchen.«
»Stabheuschrecken – is ja grell.«
Damit sind wir ihn erst einmal los.
Rufus haut sich seine Klaue aufs Ohr, nimmt all seinen Mut zusammen und ergreift das Wort: »Wir dachten, du könntest uns vielleicht helfen. Unser Bruder hier befindet sich in einer gesundheitlich äußerst prekären Situation, und Minerva sagte uns, da …«
»Hab ich verstanden!« Gabriels Worte kommen wie Eisnadeln aus seinem Terrarium geschossen. »Meine Frage war: Weshalb sollte ich?«
»Vielleicht gibt es ja etwas, das wir für dich tun können«, schlägt Rufus vor. »Eine Klaue wäscht die andere …«
Keiner von uns könnte sagen, warum, aber nach Rufus’ Worten tritt eine Stille ein, die keiner zu durchbrechen wagt. Als hielten wir etwas ungemein Zerbrechliches in den Klauen, das keiner von uns fallen lassen darf.
Ich betrachte Gabriels Terrarium: ein Haufen Sand, eine Handvoll Steine sowie drei vertrocknete Blätter einer Yucca-Palme. Außerdem ein Napf mit abgestandenem Wasser. Bisschen wie die Wohnung von Phils Ex-Partner, denke ich, und in diesem Moment verstehe ich, was mit der Lanzenotter los ist: Sie ist einsam. Vielleicht sogar noch einsamer, als es Boris gewesen ist. Seit Jahren lebt sie in diesen vier Glaswänden, und so sicher sie sein kann, dass der morgige Tag wie der gestrige sein wird, so sicher weiß sie, dass sie eines Tages in diesen vier Wänden sterben wird. Man denkt ja immer, Wirbellose hätten kein Mitgefühl und dass denen irgendwie alles voll am Arsch vorbeigeht. Aber auch Wirbellose haben ein Herz. Das weiß ich jetzt. Irgendwo ganz tief in ihrem Inneren schlägt etwas.
»Was sollten ein paar Präriehunde schon für mich tun können?«, antwortet Gabriel mit tonloser Stimme.
Mit der Langsamkeit dessen, den nichts mehr erwartet, wendet die Lanzenotter ihren Kopf ab, lässt ihn in den Sand gleiten und zieht ihren Körper hinter sich her zum Steinhaufen.
»Gabriel!«, rufe ich. Die Otter hält inne, ohne mir jedoch ihren Kopf zuzuwenden. »Ich weiß, dass wir nichts für dich tun können. Und das tut mir ehrlich leid. Ich wünschte von Herzen, wir könnten es. Das Ding ist: Unser Bruder hier wird sterben. Aber er will nicht sterben. Er will leben. Und du bist der Einzige, der ihm helfen kann.« Ich mache es wie mein Partner Phil: Lasse meine Worte einen Moment sacken. Dann füge ich hinzu: »Und damit würdest du nicht nur ihn, sondern uns alle sehr, sehr glücklich machen.«
Eine gefühlte Mondphase später dreht mir Gabriel seinen Kopf wieder zu, schlängelt sich durch den Sand, lässt sein Messingauge aufblitzen, legt den Kopf schief und betrachtet unseren bewusstlosen Bruder.
»Wie schwer ist er?«
»Rufus?«, frage ich.
»Ungefähr siebenhundert Gramm«, antwortet mein Bruder. »Plus minus zehn Prozent.«
Gabriel schiebt sich so nah an die Scheibe heran, dass ich ihn anstupsen könnte, wenn das Glas nicht wäre.
»Schwer zu dosieren«, sagt er.
»Unser Risiko«, erwidere ich.
Als Rufus und ich fünf Minuten später auf der Suche nach Rocky die Korridore des Aquariums durchwandern, stehen mir die Giftzähne der Lanzenotter noch immer albtraumhaft vor Augen – wie Gabriel sie aus seinen Wangentaschen geklappt hat, um sie so tief in Nicks Nacken zu stoßen, dass ich dachte, sie müssten auf der anderen Seite wieder hervortreten. Jetzt ist Konrad bei unserem kleinen Bruder, hält seinen Kopf im Schoß und betet, dass Nick nicht stirbt, solange er mutterseelenallein mit ihm vor einem Glaskasten mit einer Lanzenotter sitzt.
Rufus und ich beginnen, uns zu fragen, wo unser hyperintelligenter Clanchef abgeblieben sein könnte, als mir auffällt, dass wir an den Terrarien in diesem Korridor bereits zum dritten Mal vorbeilaufen: Spinnen, Schlangen, Chamäleons … Abrupt bleibe ich stehen. Rufus sieht mich an, ich sehe Rufus an, und dann
Weitere Kostenlose Bücher