Voll Speed: Roman (German Edition)
gerichtet. Die Herbstsonne wirft einen Schatten über seine Wange, der sein Gesicht wie einen Steinbruch aussehen lässt.
Kapitel 10
Kaum bin ich durch den Zaun hinter dem Oberen Waldschenkenteich geschlüpft, als mich die nächste Überraschung erwartet. Vor dem großen Raubtierhaus hat sich eine nervöse Menschenmenge versammelt. Alles redet wild durcheinander. Kinder kreischen.
»Papi!«, höre ich eine Mädchenstimme, »mach, dass die wieder rauskommt!«
»Gleich gibt’s Fleischsalat!«, ruft ein Junge.
Mindestens ein halbes Dutzend Besucher halten ihre Handykameras in die Höhe.
Ich schleiche zum Unteren Waldschenkenteich hinüber, von dort am Hirschgehege entlang und schließlich auf den Grünstreifen, der den Besucherweg teilt. Von hier kann ich unbemerkt das Gehege überblicken.
»Na los, Memme!« Es ist ein Antilopenmännchen, ein Impala, das sich so aufführt. Kamba, wenn mich nicht alles täuscht. Das Sonderbare daran ist: Kamba steht im Löwengehege!
Ich decke mit den Klauen meine Augen ab, zähle bis drei und nehme die Klauen wieder herunter. Kamba steht noch immer im Löwengehege. Schlimmer: Er tänzelt auf den Hinterbeinen, fuchtelt mit den Vorderbeinen herum wie ein Schattenboxer und wackelt dabei mit dem Hintern. Dabei ist er sonst ein ziemlich dröger Typ. Ich versuche es noch einmal: Augen abdecken, zählen, Augen aufdecken.
»Na los, Kunze!«, brüllt Kamba. »Hast du’s drauf? Na, hast du’s drauf, Alter?«
Kunze, das einzige Löwenmännchen im Zoo, ist aufgesprungen und blickt sich verunsichert um. »Lass doch den Quatsch«, brummt er.
Kamba drückt ihm seinen Hintern praktisch ins Gesicht. »Los, zeig mir, was du draufhast, Fellsack!«
»Jetzt tu doch endlich was!«, faucht Kunzes Frau Gerda dazwischen.
Auch Imbu, ihr Sohn, erwartet ganz klar mehr Einsatz von seinem Vater: »Warum reißt du ihn nicht, Vati?«
Kunze blickt verängstigt zum Zaun hinüber. »Komm, Kamba«, versucht er, den Impala zu beruhigen, »lass den Unsinn, ja?«
Kamba aber hat Schaum vor dem Maul und ist nicht zu bremsen: »Los, du alter Fellhaufen, greif mich an, wenn du dich traust!«
Ich sehe, wie zwei Männer im Laufschritt den Weg entlangeilen und auf das Gehege zusteuern. Der eine hat eine Latzhose an, der andere einen dicken Koffer und ein Gewehr dabei. Es sind Roman, der neue Raubtierpfleger, und Doktor Jennings, der Tierarzt.
»Zurücktreten!«, ruft Roman, und mir wird klar, weshalb Kunze so ängstlich den Zaun abgesucht hat.
»Los, Vati«, ruft Imbu, der gerade all seiner Illusionen beraubt wird. »Reiß ihn! Du bist doch mein Papa-Löwe!«
»Genau! Reiß mich!«, ruft Kamba, »reiß mich, reiß mich!«
Kunze will zu einer Erklärung ansetzen, als er den Tierarzt am Zaun erblickt. »Nee, komm«, abwehrend hebt er seine riesige Tatze, »nicht das Gewehr. Ich hab doch gar nix gemacht.«
»Zurücktreten!«, ruft Roman noch einmal.
Die Menge teilt sich.
»Los, Papi!«, ruft Imbu.
»Ja, los, Papi!«, ruft Kamba.
Doktor Jennings schiebt eine Betäubungspatrone in den Lauf. »Das haben wir gleich.«
»Das ist voll unfair!«, brüllt Kunze. »Was kann ich denn dafür, wenn diese bescheuerte Antilope einfach so in … Autsch!« Er wendet den Kopf und erblickt Doktor Jennings Patrone, die ihm jetzt in der Hüfte steckt. »Na toll«, mault er.
»Wieso hast du ihn nicht gerissen?«, fragt Imbu verzweifelt. »Ich denke, Löwen machen das so.«
Schon wieder setzt Kunze zu einer Erklärung an, doch diesmal kommt ihm seine Frau zuvor: » Richtige Löwen machen das so«, sagt sie und dreht ihrem Mann den Rücken zu.
»Mensch, Gerda, jetzt sei du nicht auch noch beleidigt«, seufzt die Riesenkatze und kratzt sich die Mähne, »du weißt doch, dass …«
»Buum schakalaka buum schakalaka BUUM!« Kamba führt etwas auf, was er für einen afrikanischen Siegestanz hält. Sieht voll peinlich aus – als wäre der Boden zu heiß. Dann steckt auch ihm plötzlich eine Patrone im Hintern. Zuerst merkt er es gar nicht, aber dann hält er plötzlich inne und verrenkt seinen Kopf, bis er weiß, was los ist.
»Ich seh wohl nicht richtig!«, brüllt er und eiert auf den Zaun zu. »Jennings, das hat Konsequenzen, du Schwuchtel!«
»He, he«, kann Kunze noch seine Schadenfreude zum Ausdruck bringen, dann zieht es ihm die Vorderbeine weg, und er kippt in Zeitlupe auf den Rasen.
Sofort ist Imbu bei ihm: »Warum, Papi?«
»Später, mein Sohn«, knurrt Kunze. Sein Kopf sackt auf den Rasen, und er blickt mit
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