Voll Speed: Roman (German Edition)
musst etwas Geduld haben. Nick ist noch nicht wieder vernehmungsfähig, Kamba ist für den Rest des Tages ausgeknockt, und mit Kong hab ich bereits gesprochen. Viel mehr können wir im Moment nicht tun.«
»Aha.« Rocky scheint zu begreifen, dass er sich mit meiner Antwort fürs Erste zufriedengeben muss. Er blickt sich um. »Weil …« Plötzlich klingt er ziemlich kleinlaut. »Ist wegen Roxy. Die macht mir echt … Also die ist ganz schön … gereizt. Hat Angst, es könnte irgendwie ansteckend sein und dass dem Baby was passiert und so …«
»Verstehe«, versichere ich. »Und ich verspreche dir, dass wir tun, was wir können. Aber gute Detektivarbeit erfordert gute Recherche. Sag Roxy einfach, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand für das Baby keinerlei Gefahr besteht.«
»Was für’n Stand?«
»Sag ihr einfach, dem Baby kann nichts passieren.«
»Okay.« Der Gedanke an Roxy lässt meinen großen Bruder etwas verloren aussehen. »Aber ich hab’s euch gesagt: Ich will Ergebnisse, und zwar …«
»Zeitnah«, helfe ich ihm aus.
»Zeitnah. Genau. Und wenn ich sage, ich will Ergebnisse, dann kriege ich auch Ergebnisse.«
»Is klar.« Ohne dass er es merkt, geleite ich ihn hinaus, warte, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden ist, atme zweimal tief durch – uff – und kehre kopfschüttelnd in meine Kammer zurück.
»Unser Clanchef scheint dazuzulernen«, bemerke ich.
Rufus antwortet nicht. Stattdessen sitzt er auf dem Rand meiner Computertasche und starrt apathisch ins Nichts. Der Lichtkegel seiner Lampe klebt unbeweglich an der Decke.
»Rufus?«
»Hm?«
»Was ist?«
»Viele finden, das Leben müsse einen Sinn haben«, sinniert er. »Aber es hat nur so viel Sinn, wie wir selber ihm zu geben imstande sind.«
Ach herrje. Wenn da mal nicht was Existentielles hintersteckt. »Rudi Völler?«, rate ich.
Rufus schüttelt den Kopf: »Hermann Hesse.«
Selbstredend kenne ich keinen von beiden, möchte allerdings weder die eine noch die andere Tür öffnen. Aus diesem Grund antworte ich: »Verstehe.«
»Das bezweifle ich.«
Ratlos kraule ich mir die Eier. Erst Justus, dann Phil und sein Ex-Partner Boris, anschließend Piroschka und Elsa, jetzt noch Nick, Rocky und Rufus. Langsam komme ich mir vor wie ein Artist, der mehr Bälle jonglieren soll, als er in der Luft halten kann.
So, wie Rufus dasitzt, erinnert er mich an etwas. Eine Statue. Hat er mir im Sommer mal auf unserem Smartphone gezeigt. »Der Grübler« oder so ähnlich. Irgendein Franzose. Egal. Jedenfalls erinnert mich Rufus gerade an diese Statue. Und in dem Moment, da ich diesen Gedanken habe, wird mir auch klar, was mit ihm los ist: Rocky hat ins Schwarze getroffen. Hat Rufus auf seine Situation mit Natalie zurückgeworfen, jede Wette. Ach Rocky, hättest ihm lieber eine auf die Nuss geben sollen. Mit der Art Schmerz kommt man besser klar.
»Willst du reden?«, frage ich.
»Warum nicht?« Schweigen. »Schaden kann’s nicht.« Rufus steht auf. »Später vielleicht.« Wie in Trance steuert er aus dem Raum. »Ja, später. Warum nicht?« Er verschwindet um die Ecke. Nur der Widerschein seiner Fahrradlampe ist noch zu sehen. Dann erlischt auch der.
Eigentlich ist es zu kühl, um sich nach Sonnenuntergang noch auf dem großen Hügel aufzuhalten. Doch Rufus ist nun einmal mein Bruder. Und er will reden. Schätze, das bin ich ihm schuldig. Während uns der abendliche Herbstwind um die Ohren streicht und ich darauf warte, dass Rufus mit irgendwas rüberkommt, steigt über dem Bahnhof Zoo langsam der Vollmond auf. Sieht cool aus. Der gläserne Bahnhof wirkt wie ein riesiges Gewächshaus, in das Züge ein- und ausfahren. Das neue Kupferdach von Elsas Gehege, das einen bei Sonnenaufgang blendet wie ein goldener Spiegel, schimmert wie ein aus Träumen gewebter See. Von Elsa selbst ist nichts zu sehen. Sie scheint sich in ihre Holzburg zurückgezogen zu haben. Mir fällt auf, dass ich sie nicht gesehen habe, seit … Na ja, ist ja klar seit wann. Ungewöhnlich. Dass sie sich so lange nicht zeigt.
Bevor ich endgültig im Sumpf meiner Gedanken versinke, findet mein Bruder glücklicherweise seine Sprache wieder: »Meistens hat, wenn zwei sich scheiden, einer etwas mehr zu leiden.«
Natalie. War ja klar.
»Ihr habt euch getrennt?«, frage ich.
»Waren wir je wirklich zusammen?«
»Schätze, diese Frage kannst nur du beantworten.«
Könnte er, wahrscheinlich. Aber keine Antwort ist auch eine Antwort. Mir ist bereits eine Hälfte meines
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