Voll Speed: Roman (German Edition)
einem Auge in den Himmel. »Gar nicht schlecht, das Zeug.« Einen Atemzug später fängt er an zu schnarchen.
Kamba ist inzwischen am Zaun angelangt. Er würde Doktor Jennings gerne auf seine stattlichen Hörner spießen, kann aber nicht mehr zielen, verkantet sich im Zaun und zwingt sich praktisch selbst in die Knie. »Ober …«, stößt er hervor und rülpst, wie nur Wiederkäuer das hinkriegen, »…arschloch.«
Die Show ist vorbei. Bevor die Menge sich auflöst, ziehe ich mich unauffällig zum Hirschgehege zurück und eile von dort zu den Antilopen hinüber. Sollte Ma recht gehabt haben? Wird der Zoo von göttlichem Zorn heimgesucht? Ein Nashorn, das sein Geländer verbiegt, ein Erdmännchen, das einen Schuhkarton zu Konfetti verarbeitet, ein Impala, der einen Löwen herausfordert … Mit Traubenzucker kann das wirklich nichts mehr zu tun haben. Doch womit dann? Die erste Frage lautet: Wie zum Teufel konnte Kamba in das Löwengehege gelangen? Er hätte den Zaun überspringen, den Unteren Waldschenkenteich durchschwimmen und anschließend in Kunzes Parzelle gelandet sein müssen. Unmöglich. Absolut unmöglich.
In den Antilopengehegen herrscht fiebrige Nervosität. Sämtliche Männchen haben sich im Unterstand am Haus versammelt, stecken ihre Hörner zusammen und halten einen Rat ab. Gegenüber Erdmännchen sind Antilopen im Allgemeinen nicht besonders auskunftswillig. Säuger, die in der Erde wohnen … Mit so etwas reden die nicht. Lydia allerdings, die etwas betagte Kuhantilope, ist ganz gut auf mich zu sprechen. Außerdem schuldet sie mir was, seit ich ihr mal einen Sandläufer aus dem Ohr entfernt und gefressen habe. Sie steht etwas abseits an der Tränke.
»Hi, Lydia.«
»Ha!« Sie reißt ihre Schnauze aus dem Napf und dengelt vor Aufregung mit dem Kopf gegen eine Dachstrebe. »Ray! Wie kommst du denn hierher? Hast du mich vielleicht erschreckt! Ist es schon Morgen?«
Mist. Hatte ich vergessen. Antilopen sind, selbst wenn es sich um Streifengnus handelt, äußerst schreckhaft. »Atmen, Lydia«, sage ich, »ruhig atmen. Du weißt doch, du sollst dich nicht aufregen.«
»Ja.« Einatmen. Hhhhhhh. »Du hast recht, Ray.« Ausatmen. Pffffff. »Geht schon wieder.«
Ich gebe ihr noch ein paar Atemzüge, bevor ich sie frage: »Du hast nicht zufällig mitbekommen, was hier eben passiert ist?«
»Meinst du das mit Kamba?«
»Also hast du’s mitbekommen?«
»Glaube schon.«
»Was denn jetzt?«
Lydia ist immer noch mit »bewusster Atmung« beschäftigt. Langsam Luft holen und dann – pfffffff – langsam wieder ausatmen. »Die Sache ist die …« Sie sieht zum Raubkatzenhaus hinüber. Ein. Hhhhhhh. Aus. Pffffff.
»Ja?«
»Also, ich bin mir nicht sicher.«
»Und warum nicht?«
»Na ja, ich meine: Impalas können doch eigentlich nicht fliegen, oder?«
»Erzähl mir jetzt nicht, Kamba sei in den Löwenkäfig ge flogen .«
»Nicht direkt.«
Ich mache es wie Lydia und schaue zum Löwengehege hinüber. Dieser Tag bereitet mir Kopfschmerzen, zunehmend. »Sondern?«
»Na ja, also, er hat eine Zwischenlandung beim Teich gemacht.«
»Issnwitz.«
»Ich weiß auch nicht …« Hhhhhh … Pfffff … »Klingt sonderbar, nicht wahr?«
Erschöpft tapse ich durch unseren Geheimgang, schleiche in meine Kammer, verkrieche mich in meine Schlaftasche und ziehe mir das Reggae-Halstuch über die Ohren. Ich muss nachdenken, doch in meinem Kopf herrscht ein Gewusel wie in einem Termitenhügel. Was ist hier los, verdammt? Weshalb flippen plötzlich alle aus?
Meine Überlegungen werden dadurch erschwert, dass in den Lücken zwischen meinen Gedanken immer wieder Bilder von Elsa aufleuchten, wie sie ihre Samtpfote durch die Gitterstäbe schiebt, um mir … Wie auch immer. Zusätzlich werden sie von Piroschkas Dekolletéschlucht und ihren Killermöpsen überlagert. Zu guter Letzt, wie die Leuchtreklame auf einem Hochhaus, scheint über allem die Frage auf: Hat Boris wirklich wochenlang Zeitungsartikel über Nagy und dessen Witwe gesammelt, um dann zufällig in einen Gullyschacht zu fallen?
»Ray, bist du …?«
»NEIN!«
Schweigen. Doch ich mache mir keine Hoffnung. Rufus ist penetrant wie Sekundenkleber.
»Willst du mit deiner Antwort nicht warten, bis ich meine Frage zu Ende formuliert habe?«, nölt er.
»Drauf geschissen. Die Antwort lautet ›Nein‹.«
Wie schon heute Morgen drückt er auf meiner Tasche herum. Als wüsste er nicht, wo ich bin.
»Also?«, rufe ich genervt.
»Gibt’s Neuigkeiten im
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