Voll Speed: Roman (German Edition)
Ehrfurcht wage ich nicht, die Streben zu umfassen. Der Käfig ist leer. Elsa scheint sich in ihr Haus zurückgezogen zu haben. Zugleich mit dem neuen Dach hat sie ein neues Haus bekommen. Es ist aus Holz und soll eine Burg darstellen, mit Zinnen obendrauf und einer Zugbrücke vornedran. Elsa, das Burgfräulein. Und ich, ihr Galan.
»Elsa?«, krächze ich. Da nichts weiter geschieht, huste ich mir den Kloß aus dem Hals und versuche es erneut. Jetzt, wo ich schon mal hier bin, ziehe ich es auch durch. Komme, was wolle. »Elsa – bist du da?«
Ich bilde mir ein, hinter der runden Seitenöffnung ihrer Burg eine Bewegung wahrzunehmen.
»Ray – bist du das?«
Die Stimme meiner Sehnsucht! Ja, Geliebte!, will ich ausrufen. Ich bin gekommen, dich zu holen, dich aus deiner Burg zu entführen, zu retten, mit dir auf einem Containerschiff nach Amerika anzuheuern, eine Familie zu gründen, gemeinsam alt und irgendwann von denselben Würmern zerfressen zu werden …
Stattdessen maunze ich: »Hm-m.«
»Was willst du?«
»Ich …« Uff. Auf diese Frage bin ich nicht vorbereitet. »Dich«, hauche ich.
»Was?«
»Dich!«
»Ach Ray.« Ihr feingliedriges Samtpfötchen schiebt sich durch den Torbogen und umfasst eine Kette der Zugbrücke. Der Rest von ihr bleibt im Dunkel verborgen. »Tu uns beiden einen Gefallen, und geh zu deiner Familie zurück. Sei froh, dass du eine hast.«
»Aber …«
»Ich weiß, was du sagen willst.« Ihre zweite Pfote schiebt sich aus der Öffnung und umfasst die andere Kette. Anschließend folgt ihr liebreizendes Näschen mit den vollendeten Barthaaren. »Glaub mir: Das mit uns hätte keine Zukunft. Wir gehören nicht zusammen.«
»Aber …«
»Versuch einfach zu vergessen, was geschehen ist.« Jetzt lugt auch der Rest ihres Kopfes aus der Öffnung. Sogar im Halbdunkel erkenne ich, dass ihre Augen rot unterlaufen sind. »Was immer es war – es hätte nicht geschehen dürfen.«
»Aber …«
»Geh jetzt.« Mit diesen Worten verschwindet sie im Dunkel ihrer Burg und, begleitet von einem finalen Rasseln der Ketten, schließt sich die Zugbrücke.
Benommen taumele ich den Hügel hinab, schwankend zwischen unaussprechlicher Trauer und heiß glühender Wut. Elsa, du liebliche, göttliche, ewig unerreichbare … Schlampe!
Zurück in unserem Gehege, klettere ich auf den Chefhügel, drehe Elsas Käfig den Rücken zu, blicke zum Vierwaldstätter See hinüber und lecke im Mondlicht meine Wunden. Ich meine, die Last meines eigenen Schattens zu spüren. In finstere Gedanken versunken, kraule ich mir die Eier und versuche zu begreifen, womit ich verdient habe, auf diese Weise vom Schicksal abgestraft zu werden. Kann ich mich natürlich lange fragen, logisch. Und doch gibt es keine Erklärung. Da kommt nur wieder das Prostata-Erbe durch, von dem Rufus so gerne schwadroniert: dass wir immer glauben, es gebe für alles eine Erklärung. Und dass man am Ende immer für seine Sünden büßen muss.
Der sich auf dem See spiegelnde Mond hat bereits eine ganz schöne Kurve hingelegt, als ich Rufus neben mir bemerke. Keine Ahnung, wie lange der da schon steht. Ich werd ihn nicht fragen.
»Du bist der Ansicht, ich hätte mich mit ihr paaren sollen, oder?«
Mit »ihr«. Nicht einmal Natalies Name geht meinem Bruder über die Lippen. Ist keine gute Idee, sich in meiner Verfassung mit mir darüber unterhalten zu wollen, weshalb man sich nicht mit seiner Liebsten paart, obwohl einem die Gelegenheit AUF DEM SILBERTABLETT serviert wird. Ich nehme mir vor, so lange wie möglich zu schweigen.
»Ich habe darüber nachgedacht«, fährt Rufus fort. Mal was Neues. »Und ich bin zu der Überzeugung gelangt, das Richtige getan zu haben. Am Ende ist es eine Frage der Selbstachtung.«
Am Ende ist es eine Frage, ob man Eier in der Hose hat. Finde ich. »Und«, frage ich, »wie fühlt sich das an – das Richtige getan zu haben?«
»Suboptimal«, gibt er zu.
Lieber, großer, göttlicher Savannenadler: Mach, dass mein Bruder die Schnauze hält. »Weshalb hast du dann nicht lieber das Falsche getan?«
»Es gibt kein Richtiges im Falschen – Adorno.«
»Hätte dieser Adorno mal wirklich guten Sex gehabt, wüsste er es besser.«
»Ein Mann ohne Selbstachtung wird niemals Großes vollbringen.«
Ich bitte dich inständig, lieber Savannenadler, mach, dass Rufus die Klappe hält. Oder vom Hügel springt. Sonst kann ich hier für nix mehr garantieren. »Glückwunsch.« Ich erhebe mich. Meine Knochen fühlen sich an wie
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