Voll Speed: Roman (German Edition)
Freie treten, hält er erstaunt inne, und auch der Bestatter scheint sich zu wundern. Während unseres kurzen Kapellenaufenthaltes ist die Wolkendecke aufgerissen. Eine kräftige Herbstsonne wärmt die Luft, zugleich strahlt das Gelb und Rot der Bäume in einem kalten und klaren Licht. Fast sieht es so aus, als würde jemand diesen Ort in Kunstharz gießen, um ihn für immer zu erhalten – so wie die kleinen Krokodile in den Schaukästen am Eingang vom Reptilienhaus.
Gleich neben der Kapelle ist an der Friedhofsmauer ein Loch gegraben worden, dass nicht mal groß genug ist, um als Versteck für ein ausgewachsenes Erdmännchen dienen zu können. Vor dieses Loch stellt Lincoln die Vase und verschränkt die Hände vor dem Bauch.
»Was soll das?«, flüstere ich. »Und was will der Kerl mit der Vase?«
Phil zieht ein Taschentuch hervor und bedeutet dem Bestatter, dass er sich kurz mal entfernen muss. Lincoln nickt verständnisvoll.
»Könntest du bitte aufhören, ständig reinzuquatschen?«, fragt Phil, als wir auf der anderen Seite der Kapelle und außer Hörweite sind. »Das hier ist eine Beerdigung und kein Kaffeeklatsch.«
»Tolle Beerdigung«, sage ich. »Ist ja nicht mal ’ne Leiche da.«
Phil stutzt, dann sieht es so aus, als würde ihm etwas klarwerden.
»Dieses Ding, das der Kerl da eben getragen hat …«
»Die Vase.«
»Das war keine Vase«, erklärt Phil. »Das Ding nennt man Urne. Und in dieser Urne befindet sich die Asche von Boris Kaufmann.«
»Asche?«, frage ich perplex. »Wieso Asche? Wir haben ihn im Wasser gefunden, er ist nicht verbrannt.«
»Doch«, erwidert Phil. »Der Leichnam ist verbrannt worden. Das nennt man Feuerbestattung.«
Ich mache große Augen. »Ihr Menschen gönnt nicht mal den Aasfressern einen kleinen Happen? Ihr seid wirklich ganz schön schräg drauf.«
Andererseits ist so eine Feuerbestattung auch irgendwie cool, denke ich. In der Savanne lässt man die Toten ja üblicherweise einfach rumliegen. Schakale, Aasgeier und Hyänen kümmern sich um alles Weitere. Mit flächendeckenden Feuerbestattungen könnte man denen ganz schön lange Nasen machen: Hey! Hyäne! … Friss Staub!
»Jedenfalls wird die Urne jetzt begraben«, erklärt Phil.
»Oh. Kann ich das bitte machen?«, rutscht es mir raus.
Phil schüttelt den Kopf. »Tut mir leid, aber der Kerl mit dem Hut muss das machen. Sonst noch Fragen? Oder können wir dann wieder zurückgehen?«
Ich zögere einen Moment, dann beschließe ich, Phil noch einmal auf seine Trauerrede anzusprechen. Nach der Beerdigung wird es dafür nämlich zu spät sein.
»Was ist? Können wir?«, fragt Phil ungehalten.
»Du solltest Boris ein paar Worte mit auf den Weg geben.«, sage ich. »Sonst wirst du es später vielleicht mal bereuen.«
Phil sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an, zieht seinen Flachmann hervor und nimmt noch einen Schluck. Dann knurrt er: »Danke für den Tipp. Ich werd’s mir überlegen.«
Ich kann mich kaum konzentrieren, weil Abraham Lincoln beim Vergraben der Urne so ungeschickt mit seinem Schippchen hantiert, dass ich am liebsten aus der Tasche springen und ihm mal kurz zeigen würde, wie es richtig gemacht wird. Aber mich fragt ja keiner.
Schließlich ist Lincoln fertig. Die Urne befindet sich in der Erde, nur der in einem matten Schwarz glänzende Deckel ist noch sichtbar. Wenn ich richtig vermute, kommt jetzt eine Steinplatte darauf. Um uns herum sind viele solcher Platten im Boden eingelassen. Kleine Schildchen auf dem polierten Stein verraten, wessen Asche hier vergraben ist. Vermute ich zumindest. Irgendwann werde ich Rufus doch noch bitten, mir das Lesen beizubringen. Es nervt, wenn man sich immer alles zusammenreimen muss.
Lincoln reicht Phil das Schippchen, auf dem ein wenig Erde ist, die Phil nun ins Grab rieseln lässt. Er gibt dem Bestatter das Werkzeug zurück und zögert einen Moment. »Ich glaube, ich würde jetzt doch gerne etwas sagen, falls das möglich ist.«
Lincoln, der sich gerade abwenden wollte, um nach der Steinplatte zu greifen, nimmt wieder Haltung an und nickt pietätvoll. »Aber ja. Gern.«
Jetzt bin ich gespannt.
»Lieber Boris …«, beginnt Phil. Sieht so aus, als müsste mein Partner eine Träne verdrücken. »Ich möchte … ähm … dich heute … also … ääähm … was ich sagen will …« Phil verstummt und räuspert sich. »Ich will nur so viel sagen, dass …« Wieder schluckt Phil den Rest des Satzes herunter. Zusammen mit weiteren Tränen,
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