Voll Speed: Roman (German Edition)
und ein olympiareifes Ausweichmanöver hinlegt. Das anschließende Hupkonzert stört meinen Partner nicht mehr als eine zermatschte Mücke auf der Windschutzscheibe. Vielleicht sollte ich mir über das »Morgen« nicht allzu viele Sorgen machen, denke ich. Wer weiß, ob nicht heute schon Schicht ist. Gibt schließlich eine Menge SUVs in der Stadt.
Kurz darauf parkt Phil am Zoo. Das Auto ist noch am Stück und wir ebenfalls. Er trägt mich in seiner Tasche zum Zaun hinüber.
»Was denn jetzt?«, frage ich, als er mir das Klopfzeichen gibt, dass ich herausklettern kann.
»Hm?«
»Wegen morgen – die Beerdigung.«
Phil blickt sich um und setzt mich im Gebüsch ab. »Hast du einen Anzug?«
Sehr witzig. »Kommt doch sowieso keiner, hat Ernie gesagt«, kontere ich.
Er nickt, als sei das ein bedenkenswerter Einwand. »Wenn du nichts Besseres vorhast …«
Ich überlege: Zu Hause erwarten mich ein manisch-depressiver Rufus, ein einfältiger Clanchef, der Ergebnisse sehen will, »und zwar zeitnah«, sowie ein Chinchillaweibchen, das mich vor zwei Tagen den flüchtigen Duft des Paradieses hat schnuppern lassen und sich seither nicht wieder gezeigt hat. Außerdem eine Vielzahl von Tieren, die zusammengenommen so intelligent sind wie eine Tüte Chips.
»Hab ich nicht«, antworte ich.
Ich bringe tatsächlich das Kunststück fertig, den gesamten Nachmittag unbemerkt vom Rest des Clans unter dem Reggae-Halstuch in meiner Laptoptasche zu liegen und die vergangenen Tage an mir vorbeiziehen zu lassen. Zwar kommt Rocky zweimal herein und brüllt meinen Namen, aber als ich nicht antworte, verzieht er sich wieder. Von Rufus keine Spur. Hat wahrscheinlich genug damit zu tun, nicht in seinem Selbstmitleid zu ertrinken.
Jedes Mal, wenn ich von neuem darüber nachdenke, was in den letzten Tagen vorgefallen ist, rastet mein Projektor an derselben Stelle ein: Elsa und ich und dazwischen zwei kalte Gitterstäbe. Bereits am frühen Nachmittag, als Pfleger Silvio zur zweiten Fütterung vorbeikommt und der Clan geschlossen ins Freie pilgert, um sich seinen Trockenfraß reinzuziehen, weiß ich, dass ich mich dem stellen muss. Dass mir früher oder später nichts anderes übrigbleiben wird, als herauszufinden, was diese bittersüße Erfahrung für Elsa bedeutet. Ob sie ihr überhaupt etwas bedeutet. Ob sie sich seither wie ich in leidenschaftlicher Sehnsucht verzehrt oder ob die Erinnerung daran längst verblasst ist, unter Schichten anderer flüchtiger Erinnerungen begraben liegt und langsam zu Vergessen sedimentiert.
Erst spät am Abend, nachdem das Treiben im Bau zur Ruhe gekommen ist und der sehnsüchtig lodernde Schmerz in meinen Eingeweiden mich von innen zu zerfressen droht, bringe ich den Mut auf, meinem Schicksal gegenüberzutreten, und schleiche heimlich zum Geheimgang. Als ich hinter dem Flamingohaus aus der Erde krieche und mich im Gehege umsehe, halte ich abrupt inne. Der abnehmende Mond spiegelt sich im Vierwaldstätter See wie eine silberne Öffnung in ein geheimes Traumreich – das Tor zu einer fremden Welt.
Schöne Scheiße, denke ich. Wenn ich schon so drauf bin, bevor ich zu Elsa gehe, dann kann diese Nacht ja nur als Desaster enden. Glücklicherweise stakst einer der Flamingos in den See, das Tor zu meinem Traumreich beginnt, Wellen zu schlagen und sich zu zerfasern, und ich bin aus meiner Starre erlöst.
»Geht’s dir nicht gut, Ray?«, fragt einer der Flamingos, dessen Kopf aus dem Nichts kommend direkt vor mir auftaucht.
Ich fahre zusammen. Plötzlich spüre ich die Kälte und die Unausweichlichkeit des Schicksals, das mich erwartet. »Ging mir nie besser«, erwidere ich und verschwinde im Gebüsch.
Vom Kiesweg aus blicke ich zu Elsas Gehege empor, dessen neues Kupferdach mit dem Mondlicht verschmilzt und glänzt wie flüssige Bronze, die eigentlich von der Kante tropfen müsste. Die Gorillas und Paviane haben sich sämtlich in ihre Häuser zurückgezogen, auch von den Antilopen und Giraffen ist nichts zu sehen. Im Hintergrund verlässt eine alte S-Bahn mit metallisch schriekenden Rädern den Bahnhof und zieht hinaus in die Nacht. Ich setze ein Stoßgebet an den allmächtigen Savannenadler ab – bitte, bitte, bitte, du scheiß Adler, mach, dass sie mich will! – und steige schwer atmend den Hügel hinauf.
An Elsas Käfig angekommen, zittern mir die Knie, und mein Herz wummert so laut, dass bei jedem Schlag meine Trommelfelle vibrieren. Ich stehe an derselben Stelle wie zwei Nächte zuvor. Vor lauter
Weitere Kostenlose Bücher