Voll Speed: Roman (German Edition)
das Elefantengehege hinter mir und nehme Kurs auf den Vierwaldstätter See, als ich plötzlich ein schrilles Fiepen, begleitet von einem lauten Keuchen, höre. Ein Nagetier in Eile. Oder in Not. Ich kenne die Stimmen der Zoobewohner. Deshalb ist mir sofort klar, dass es sich um einen Eindringling handelt. Im nächsten Moment schießt eine kleine, räudige Ratte an mir vorbei. Sie trägt eine Art Rucksack, ein winziges, schwarzes Päckchen, befestigt an einem Brustgeschirr. Der Modergestank, den sie hinter sich herzieht, hängt noch in der Luft, als die Ratte bereits zwischen den Büschen zum Elefantengehege verschwunden ist. Verdutzt schaue ich ihr hinterher und überlege, ob ich ihr folgen oder den Clan informieren soll, da saust in einem Affenzahn Kato an mir vorbei.
»Hallo, Ray!« Er atmet schnell.
»Hallo …« Ich komme nicht dazu, seinen Namen zu nennen, denn schon ist auch Kato zwischen den Büschen verschwunden.
Verdutzt schaue ich in die Richtung, aus der Kato gekommen ist, da werde ich unsanft angerempelt.
»Sorry, Ray!« Das war jetzt Kirk, Katos Bruder aus dem zweiten Wurf. Und auch Kirk verschwindet zwischen den Büschen.
Ich trete sicherheitshalber ein wenig zur Seite und schaue interessiert in Richtung Vierwaldstätter See. Wer mag da noch so alles auftauchen?
Rocky ist der Nächste. Ich erkenne ihn schon von weitem am ungewöhnlichen Laufstil. Sein muskulöser Oberkörper macht elegante Bewegungen praktisch unmöglich. Wenn Rocky in Eile ist, sieht dass immer so aus, als hätte er Rheuma in den Knien. Den Blick stur nach vorn gerichtet, rattert er an mir vorbei, ohne mich überhaupt zu bemerken. Typisch. Als er mit der Wucht einer entgleisten Lokomotive in die Büsche kracht, reißt er mehrere Äste mit sich, und ein Schwall goldbrauner Blätter flattert zu Boden.
Verdutzt schaue ich meinen Brüdern nach. Was zur Hölle ist hier eigentlich los?
Ich überlege und beschließe, den dreien zu folgen. Mit einer halben Portion wie dieser Ratte werden sie zwar locker allein fertig, aber ich möchte später nicht hören, dass ich mich gedrückt habe.
Gerade will ich losspurten, da höre ich ein leises Pfeifen, kombiniert mit Schnappatmung. Das ist Pa. Auch er kommt angekraxelt. Meiner laienhaften Meinung nach steht er kurz vor einem Herzinfarkt.
»Wo sind sie hin?«, ruft er japsend. »Ich hab den Anschluss verloren, weil mein Gehstock am Seeufer eingesunken ist.«
Ehrlich gesagt, hat unser alter Herr schon vor vielen Jahren den Anschluss verloren, aber leider sagt ihm das keiner.
»Komm erst mal her, Pa«, rufe ich zurück und warte dann geduldig, bis unser Vater endlich bei mir angekommen ist.
»Wohin sind sie?«, will er erneut wissen.
»Was ist denn überhaupt los?«, lautet meine Gegenfrage.
»Die Ratten verkaufen Drogen an unsere Kinder«, japst Pa. »Hätten wir uns gleich denken können.«
»Sagt wer?«, frage ich.
»Wir haben Überwachungsvideos vom Vierwaldstätter See«, erwidert Pa und hustet trocken. »Rufus kann beweisen, dass die Ratten irgendwelches Zeug transportieren. Alles andere ist ja wohl klar, oder?«
Rufus hat Kameras am Vierwaldstätter See installiert? Ich ahne, dass es nicht die Absicht meines cleveren Bruders war, einer Rattendrogenbande auf die Spur zu kommen. Bestimmt wollte er seine kleine Freundin Natalie observieren. Keine gute Idee, finde ich. Sich Abend für Abend das Herz zu zersäbeln, weil man die Liebste mit einem anderen sieht, macht einen nämlich wahnsinnig. Ich weiß, wovon ich rede.
»Okay, Pa«, sage ich. »Wir machen jetzt Folgendes: Du gehst zurück in den Bau, und ich helfe den anderen, die Ratte zu schnappen.«
»Junger Mann, wie redest du denn mit mir?«, fragt er, und in seinen ansonsten trüben Augen ist ein empörtes Blitzen zu sehen.
In der Tat wundere ich mich gerade selbst ein wenig über den forschen Ton, den ich da unserem alten Herrn gegenüber anschlage. Blitzschnell entscheide ich, dass ich um jeden Preis eine Konfrontation vermeiden werde. Dafür ist Pa nämlich schlicht zu alt und zu tattrig. Rufus und ich haben schon überlegt, ihm einen Fahrstuhl ins Gehege zu bauen, was nur daran scheitert, dass der überirdische Eingang früher oder später von einem Pfleger entdeckt werden würde. Das könnte dann unsere gesamte unterirdische Anlage verraten. Aber allein die Tatsache, dass Pa eigentlich einen Fahrstuhl bräuchte, beweist, dass er garantiert nicht in der körperlichen Verfassung ist, sich mit einer Ratte zu balgen.
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