Voll Speed: Roman (German Edition)
Irgendwie muss ich ihn also nach Hause schicken. Ich versuche es mit der guten alten Überrumpelungstaktik.
»Bist du eigentlich noch bei Trost, Pa?«, rufe ich. »Wenn der Clanchef eine Ratte verfolgt, dann kann der Clanälteste den Bau doch nicht verlassen!«
Pa wirkt verunsichert. »Ach ja? Und … warum nicht?«
»Was, wenn ihr BEIDE im Kampf auf der Strecke bleibt?«, ereifere ich mich. »Der Clan wäre führungslos und damit ein gefundenes Fressen für sämtliche Savannenadler und Puffottern aus der Gegend.«
Auf Pas Stirn gesellt sich eine einzelne Denkfalte zu den zahllosen Altersfalten. Mit den Krallen seiner freien Klaue kratzt er sich am Kinn.
Er ist zwar der Einzige im Clan, der ernsthaft glaubt, dass wir mitten in Berlin Angriffe von Puffottern und Savannenadlern zu befürchten haben, aber weil er auch der Clanälteste ist, würde ihm nie jemand widersprechen. Manchmal kann es lebensrettend sein, wenn jemand an seine eigenen Märchen glaubt.
»Da ist was dran, mein Junge«, brummelt Pa.
Eigentlich bedeutet mir seine Zustimmung viel. Schade nur, dass ich sie gerade für eine völlig schwachsinnige Theorie ernte.
»Und deshalb musst du sofort zurück zum Gehege!«, erkläre ich. »Überlass uns die Ratte und kümmere du dich um den Clan! Okay?«
Pa nickt anerkennend, dann klopft er mir feierlich auf die Schulter und sagt: »Du hast mich überzeugt, Roy. So machen wir es.«
»Ich heiße Ray, Pa.«
»Weiß ich doch.«
»Schon gut«, wiegele ich ab und schiebe ihn in Richtung Flamingogehege. »Hauptsache, du läufst jetzt sofort zum Bau.«
Er nickt und kraxelt Richtung Vierwaldstätter See. Eine halbwegs trainierte Weinbergschnecke könnte ihn locker abhängen.
»Bis später!«, ruft er.
»Ja, bis …« Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment spüre ich einen Lufthauch an meinen Ohren, dann fällt mir mit einem dumpfen Stöhnen mein kleiner Bruder Kato vor die Füße.
Pa hält noch mal inne und dreht sich irritiert zu mir um.
Ich hebe abwehrend meine Vorderläufe. »Nichts passiert, Pa! Geh einfach weiter! Alles in Ordnung!«
Pa nickt und humpelt weiter.
Ich betrachte Kato. Nichts ist in Ordnung. Er sieht aus, als hätte ein Savannenadler Sturzflugmanöver mit ihm geübt.
»Was zur Hölle ist denn mit dir passiert?«, will ich wissen.
Mein Bruder verzieht sein von unzähligen Schlägen verquollenes Gesicht und öffnet dann mühsam den Mund, um zu antworten. Er kommt nicht dazu. Ein Sirren, dann schießt etwas durch die Büsche, saust zischend an uns vorbei und schlittert wie ein havariertes Flugzeug über eine Rasenfläche, wo es irgendwann zum Stehen kommt. Bei dem Etwas handelt es sich um Kirk. Verwundert rappelt mein kleiner Bruder sich hoch. Er sieht genauso mitgenommen aus wie Kato.
»Leute! Hierher! Kommt zurück! Ich brauche Verstärkung!« Das ist Rockys Stimme. Er klingt panisch, was mich ein wenig beunruhigt, da ich meinen älteren Bruder noch nie in Panik erlebt habe.
»Hey! Wo bleibt ihr denn?«, tönt es erneut von der anderen Seite der Buschgrenze.
Kato und Kirk hören ihren Clanführer nicht einmal. Sie wirken völlig benebelt.
»Ich bin auf dem Weg!«, rufe ich und stürme durch das Buschwerk, um Rocky zu Hilfe zu eilen.
Sein Anblick verschlägt mir den Atem. Auch mein kampferprobter ältester Bruder hat viel einstecken müssen. Seine Stirn blutet, seine Unterlippe ebenfalls. Ein Auge ist ganz zugeschwollen, das andere mindestens zur Hälfte. Als er mich sieht, nickt er und knurrt: »Ist ’n hartes Stück Arbeit, hier.«
Was er meinen könnte, ist mir schleierhaft, denn außer der zwar hässlichen, aber keineswegs gefährlich wirkenden Ratte, die eben noch Reißaus genommen hat, ist niemand zu sehen. Mit diesem mickrigen Exemplar müsste ich sogar allein fertig werden, denke ich und bringe meine Krallen in Angriffsposition.
Zwei Atemzüge später liege ich am Boden, und vier verschiedene Stellen meines Körpers tun mir weh. Und ich weiß noch nicht einmal genau, wie die Ratte es angestellt hat, mich auszuknocken, denn es ging alles viel zu schnell. Ist das eine neue Kampfkunst oder so was?
Ich rappele mich hoch und blicke fragend zu Rocky. Der nickt bestätigend. Diese Ratte ist alles andere als ein leichter Fall. Wir starten einen neuen Angriff, diesmal gemeinsam, aber wieder ist das Ergebnis für uns beide schmerzhaft und im wahrsten Sinne des Wortes niederschmetternd. Obendrein scheint die Kung-Fu-Ratte bislang keinen einzigen Kratzer abbekommen zu
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