Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
Vom Netzwerk:
die Arbeitsbedingungen manche Wünsche offenließen. Die Situation ähnelte der Lebenslage der arbeitslosen Vertriebenen in den frühen 1950er-Jahren, allerdings mit dem gewaltigen Unterschied, dass sich damals innerhalb weniger Jahre das Kernproblem der Massenarbeitslosigkeit wie von selbst löste, während es sich in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung in quälender Weise über lange Jahre hinzog und zum Teil auch heute noch immer fortbesteht.
    In der Tat war und ist das Lebensgefühl der Babyboomer-Generation in West und Ost in hohem Maße ein Reflex der objektiven Wirtschaftslage Deutschlands in den letzten fast vier Jahrzehnten. Während bis 1973 der kräftige Sog der weltwirtschaftlichen und europäischen Integration die Menschen in die Voll- und sogar Überbeschäftigung „hineinzog“, musste die nächste Generation sich selbst in Beschäftigung „hineindrücken“: durch gute Qualifikation, Anpassungsbereitschaft und wenn nötig eben auch niedrigere Löhne, die es den Unternehmen erlaubten, nicht nur durch Erneuerung des Kapitalbestandes, Verbesserung der Produktpalette und Stärkung der Innovationskraft, sondern auch durch relativ günstige Lohnkosten international wettbewerbsfähig zu bleiben oder zu werden. Dabei ging es niemals um eine explizite „Niedriglohnstrategie“, die nur billig produzieren will und ausdrücklich auf die vielen anderen Fortschritte einer modernen Industrie im internationalen Wettbewerb verzichtet; es ging aber sehr wohl um die Verbesserung der Standortbedingungen durch eine moderate Lohnentwicklung, die es erlaubte, das innovations- und investitionsgetriebene Wachstum auch in einen höheren Grad der Beschäftigung umzusetzen.
    Genau um diesen Punkt drehten sich viele wirtschaftspolitische Debatten seit den 1970er-Jahren über die Möglichkeiten und Grenzen des Kampfes gegen die Unterbeschäftigung. Dabei zeigt die Entwicklung, dass der beschrittene Weg gesamtwirtschaftlich keineswegs erfolglos war. Zwar gelang es bis zur Mitte des letzten Jahrzehnts nicht, die Arbeitslosigkeit wirklich deutlich zu senken. Gleichwohl war die Entwicklungsbilanz der Beschäftigung beachtlich. So stieg von 1975 bis 1990 die Zahl der Arbeitnehmer in Westdeutschland immerhin um 21 Prozent, also mit einer durchschnittlichen Wachstumsrate von 1,3 Prozent p. a. Im Jahr 1990 gab es schließlich 4,7 Millionen Arbeitsplätze mehr als 1975. Dabei half das durchaus respektable Wirtschaftswachstum von real 2,7 Prozent p. a. kräftig mit.
    Selbst für das wiedervereinigte Deutschland ist das Bild nicht wirklich düster, jedenfalls für die Zeit nach dem Tiefpunkt der Transformationskrise des Ostens in den frühen 1990er-Jahren. So stieg die Zahl der Arbeitnehmer von 1995 bis 2010 um knapp 6,5 Prozent, was einer Wachstumsrate von 0,4 Prozent p. a. und einem absoluten Zuwachs von 2,2 Millionen Arbeitsplätzen entspricht. Dabei ist zu bedenken, dass sich die ostdeutsche Transformationskrise noch bis tief in das vergangene Jahrzehnt hinzog und eine noch bessere Bilanz vor allem deshalb erschwerte. Das insgesamt relativ schwache Wirtschaftswachstum von nur knapp über 1,2 Prozent p. a. tat ein Übriges. 41 Erst als sich das Wachstum ab 2005 deutlich beschleunigte, schlug dies dann auch voll auf den Arbeitsmarkt durch. Von dem Zuwachs an Beschäftigten von 2,2 Millionen im Zeitraum 1995 bis 2010 gehen 1,6 Millionen, also etwa 70 Prozent, auf das Konto der Jahre ab 2005.
    So weit die grobe gesamtwirtschaftliche Bilanz. Hinter dieser Entwicklung steckte ein tief greifender qualitativer Wandel der Funktionsweise der deutschen Wirtschaft, vielleicht sogar der gesamten deutschen Gesellschaft. Die soziale Marktwirtschaft war ja jene ordnungspolitische Konzeption, die Ludwig Erhard und seine intellektuellen Mitstreiter in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren als Grundlage für einen typisch deutschen Weg des humanen Kapitalismus ausgerufen hatten. 42 Sie veränderte sich nun, und zwar vor allem durch die neue Problemlage am Arbeitsmarkt. Die Grundrichtung dieser Veränderungen war dabei eindeutig – „mehr Markt“, so lautet sie in einem politischen Schlagwort, „mehr Elemente der Anpassungsflexibilität“, so könnte sie in akademischer Sprache heißen. Die wichtigsten Veränderungen betrafen vor allem drei Gebiete: die Befristung von Arbeitsverhältnissen, die Arbeitnehmerüberlassung und den Flächentarifvertrag. In allen dreien setzten in den 1980er-Jahren erste Lockerungstendenzen ein, die in

Weitere Kostenlose Bücher