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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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Kern. Immerhin hatte es ja im Westen als Reaktion auf die Verteuerung von Rohstoffen und Arbeit schmerzhafte Anpassungen gegeben. Im Ergebnis waren traditionelle Produktionsweisen, die viele Arbeitskräfte sowie teure Rohstoffe benötigten und die Umwelt zerstörten, durch neue, schonende Technologien ersetzt worden. Und ebenso hatte es eine nicht weniger radikale Modernisierung des Spektrums der produzierten Waren und Dienstleistungen gegeben. So musste die ostdeutsche Industrie im Zeitraffer alles durchlaufen, was in der kapitalistischen Marktwirtschaft kontinuierlich und evolutionär erfolgt war – als natürliche Reaktion auf „Ölkrisen“ und Ähnliches, also auf Preissignale des Marktes und auf ein größeres Umweltbewusstsein der Bevölkerung.
    Kurzum: Es war eine historische Aufgabe ungeheuren Ausmaßes. Sie sorgte – ganz ähnlich wie seinerzeit die Ölkrisen mit den anschließenden Rezessionen im Westen – für eine drastische Korrektur der Arbeitsnachfrage nach unten. Genauer gesagt: Eine Arbeitsnachfrage, die nur hinter der wasserdichten protektionistischen Mauer der Planwirtschaft eine geschützte Existenz geführt hatte, wurde unter marktwirtschaftlichen Bedingungen auf ihr nachhaltiges Niveau zurückgeführt. Die Folge war eine hohe Arbeitslosigkeit, und zwar in einer Größenordnung, die es in Deutschland seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 nicht mehr gegeben hatte. Die Arbeitslosenquote bewegte sich im Osten des wiedervereinigten Deutschlands ab Mitte der 1990er-Jahre zwischen 15 und 20 Prozent. Rechnet man die Erwerbspersonen in verdeckten Formen der Arbeitslosigkeit hinzu – von Kurzarbeit über die Frühverrentung bis zu Arbeitsbeschaffungs- und Umschulungsmaßnahmen –, landet man für jene Jahre schnell in der Größenordnung von 30 bis 40 Prozent. 39
    Die Transformation im Osten hatte auch Rückwirkungen auf den Westen. In den Jahren 1990 bis 1992 sorgte sie für eine kräftige konjunkturelle Belebung, die stärkste seit den frühen 1970er-Jahren, bedingt vor allem durch die riesigen öffentlichen Ausgaben-, Investitions- und Förderprogramme, die westdeutsche Unternehmen ausgiebig nutzten. Allerdings kam es im Windschatten dieser Programmwelle im Jahr 1993 zu einer Rezession, der ersten seit 1982 (siehe Schaubild 1 ). Diese war indirekt auch außenwirtschaftlich bedingt: Durch die massive Erhöhung der Staatsausgaben zur Finanzierung des Aufbaus Ost gerieten die öffentlichen Haushalte ins Defizit. Als Folge davon wies – erstmalig seit den späten 1970er-Jahren – auch die Leistungsbilanz Deutschlands ein Defizit auf, das im Wege moderat steigender Zinsen recht problemlos auf den internationalen Kapitalmärkten finanziert werden konnte. Es sorgte jedoch innerhalb des Europäischen Währungssystems (EWS) für Spannungen. So kam es schließlich im September 1992 im Rahmen eines Realignments der Wechselkurse zu einer kräftigen Aufwertung der D-Mark und zum Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus dem Währungsverbund mit anschließender Abwertung des Pfund Sterling gegenüber der D-Mark. Die starke deutsche Währung sorgte im Land selbst für eine deutliche Abkühlung der Konjunktur. Die dadurch bedingte Rezession – das Gegenstück zum vorangegangenen „Einheitsboom“ – war also eine Art verspäteter Preis der Deutschen Einheit. Am Arbeitsmarkt war sie ein zentraler Grund dafür, dass Mitte der 1990er auch im Westen Deutschlands eine industrielle Krise einsetzte, mit einem neuen Höchststand der Arbeitslosigkeit.
    So weit also die Anatomie der beiden großen Krisen und ihre Wirkung auf die Arbeitsnachfrage. Vor dem Hintergrund der Zunahme der Erwerbspersonen hinterließen die Krisen eine deutsche Wirtschaft mit Aufgaben der Anpassung, die noch weit über das hinausgingen, was andere westeuropäische Länder am Arbeitsmarkt zu bewältigen hatten. Von 1997 bis 2006 gab es bis auf zwei Jahre im wiedervereinigten Deutschland nach den offiziellen Statistiken der Bundesanstalt für Arbeit deutlich mehr als vier Millionen Arbeitslose. Deutschland wurde schließlich ab 2001 innerhalb der Europäischen Union zu einem Land mit überdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit, erstmals seit der frühen Nachkriegszeit ( Schaubild 7 ).

    Es bleibt die Frage: Was geschah in jenen langen Phasen der konjunkturellen Normalität, die den großen dramatischen Strukturbrüchen der Ölkrisen und der Deutschen Einheit folgten? Und vor allem: Wie reagierten der Arbeitsmarkt und die Politik auf

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