Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
in Richtung Inflationsbekämpfung als eine späte Einsicht in die wahren Zusammenhänge interpretieren. Ob dabei die Härte des Schwenks richtig war oder eine schrittweise Wendung („Gradualismus“) weniger Schaden in Form von Arbeitslosigkeit hinterlassen hätte, kann für unsere Analyse dahinstehen. Damals war dies allerdings ein zentraler Punkt der hitzigen wirtschaftspolitischen Debatten, die sich zwischen monetaristisch und keynesianisch orientierten Ökonomen abspielten, wobei es viele Zwischenstufen und Nuancierungen der Diagnosen und Therapievorschläge gab. Jedenfalls steht historisch das zwiespältige Ergebnis fest, das schließlich dabei herauskam: Einerseits wurde die Inflation auf lange Zeit besiegt, denn ab Mitte der 1980er-Jahre hat es keinerlei globale Geldentwertung mehr gegeben, die sich auch nur annähernd mit dem messen kann, was in den späten 1970er-Jahren üblich war; andererseits wurde hohe Arbeitslosigkeit zumindest in Europa zu einem dauerhaften Problem, und zwar in einer Dimension, wie es sie bis 1973 nirgends gegeben hatte.
Wichtig für uns ist vor allem die Arbeitsplatzwirkung der zweiten „Etappe“, die – wie schon die erste – durch eine Ölkrise eingeleitet und eine schwere Rezession Realität wurde. Auch diesmal brach die industrielle Beschäftigung ein, wobei die Wucht und Größenordnung des Einbruchs nicht ganz die Dramatik der ersten Etappe erreichte; dafür zog sich aber die Krise deutlich länger hin. Von 1980 bis 1983 gingen per saldo etwa 750.000 industrielle Arbeitsplätze 37 verloren, davon allein 600.000 im verarbeitenden Gewerbe, das damit einen neuen Tiefpunkt erreichte. Es hatte nun seit Anfang der 1970er-Jahre etwa 15 Prozent seines damaligen Beschäftigungsniveaus eingebüßt, rund 1,4 Millionen Arbeitsplätze. Der Westen Deutschlands lebte also fortan mit einer industriellen Basis, die rein quantitativ doch deutlich kleiner ausfiel als jene, die in der Nachkriegsgeschichte bis 1973 aufgebaut worden war. Und dies ausgerechnet in einer historischen Phase, in der die Babyboomer-Generation unvermindert auf den Arbeitsmarkt drängte. Bei nun stabil über zwei Millionen Arbeitslosen rückte deshalb ab Mitte der 1980er-Jahre die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit endgültig in das Zentrum der wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte in Westdeutschland. Es begann eine neue Phase der Anpassung, die durchaus Beschäftigungserfolge brachte, aber gleichwohl die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen konnte. Wir werden darauf noch ausführlich zurückkommen.
Zunächst aber zur zweiten großen Krise der deutschen Wirtschaftsgeschichte seit 1973: der Deutschen Einheit und ihren Folgen. Die Krise begann bereits im Jahr 1990 und fand zunächst ausschließlich im Osten des Landes statt. Denn durch die Wirtschafts- und Währungsunion wurde dort ein radikaler Strukturwandel in Gang gesetzt, der praktisch jeden wirtschaftlichen Betrieb der Region total umkrempelte. So verschwanden in der Landwirtschaft in der Anpassung an die globalen Agrarmärkte in kürzester Zeit etwa 700.000 Arbeitsplätze. Als noch viel gewaltiger erwies sich der Strukturwandel in der Industrie: Innerhalb von drei Jahren gingen mindestens 2,5 Millionen Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe verloren. Im Zuge der Sanierung und Privatisierung der Treuhandanstalt schrumpfte der ostdeutsche Bestand an industriellen Arbeitsplätzen auf jenes Niveau, bei dem die Erwerber bei rundum erneuertem Kapitalstock einen nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg erwarten konnten. Es war wahrscheinlich der schnellste und grundlegendste Wandel, der bisher in irgendeinem industrialisierten Land stattgefunden hat. Die übliche Bezeichnung dafür – „Transformation“ – bringt dies nur recht milde zum Ausdruck. 38
Im Kern ging es bei der Transformation um zwei unterschiedliche Aspekte der radikalen Modernisierung. Zum einen mussten die verheerenden Ineffizienzen der Planwirtschaft in den Betrieben angegangen werden. Sie waren zunächst allgegenwärtig, vom Beschaffungswesen über die Organisation bis zum Vertrieb; mit dem Übergang zur Marktwirtschaft gehörten sie aber sehr schnell der Vergangenheit an. Ihre Beseitigung war eher noch der leichtere Teil der Transformation. Zum anderen musste jene Erneuerung des Kapitalbestandes und der Produktpalette nachgeholt werden, die im Westen – über Jahrzehnte gestreckt – stattgefunden hatte. Das erwies sich als der wirklich schwierige Teil der Transformation, ihr eigentlicher harter
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