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Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder

Titel: Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Paqué
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der Öffentlichkeit. Indes blieb der erhoffte Schub der Popularität aus, und die Mitgliederzahlen setzten ihren Rückgang fort.
    Die Arbeitszeitverkürzung stieß als eine Form der kruden Rationierung auf die einhellige Kritik marktorientierter Ökonomen. Viele von ihnen blickten damals aufmerksam auf die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, wo am Arbeitsmarkt starre Strukturen durch harte politische Konfrontation aufgebrochen wurden. Ähnliches fand in Deutschland nicht statt, was zum einen an einer stärker konsensorientierten politischen Kultur lag. So war die seit 1983 regierende christlich-liberale Koalition unter Helmut Kohl nicht bereit, die härtere Gangart Ronald Reagans und Margaret Thatchers zu imitieren. Zum anderen lag es – zumindest im Vergleich zur Situation in Großbritannien – an dem noch immer relativ gut funktionierenden „Korporatismus“ deutscher Prägung, der gelegentlich liebevoll-ironisch als Rheinischer Kapitalismus bezeichnet wurde. Tatsächlich war ja die Arbeitslosigkeit seit den frühen 1970er-Jahren in Westdeutschland deutlich gestiegen, aber sie lag noch für einige Jahre unter dem amerikanischen und weit unter dem britischen Niveau. Kurzum: Das „deutsche Modell“ war zwar ein Stück weit ramponiert, aber im internationalen Vergleich nahm es sich gar nicht so schlecht aus.
    Genau diese gesellschaftliche Stimmungslage, gepaart mit ersten bescheidenen kleinen Maßnahmen der Liberalisierung, stabilisierte ein letztes Mal den Ruf und die Funktionsfähigkeit des deutschen Tarifvertragssystems. Erst mit der Deutschen Einheit und ihren Folgen begann sich dies zu ändern. 47 Es zeigte sich nämlich nach 1990 schnell, dass die historisch neue Dimension der strukturellen Arbeitslosigkeit im Osten dem Flächentarifvertrag in wenigen Jahren die Geschäftsgrundlage entzog. Die früh vereinbarte Ost-West-Angleichung der Tariflöhne – ausgehandelt in merkwürdig asymmetrischen Verhandlungen zwischen Gewerkschaftsfunktionären aus dem Westen und Managern der hoch subventionierten Treuhandanstalt im Osten – stand nach der schnellen Privatisierung der Betriebsstätten und Unternehmen nur mehr auf dem Papier.
    Wie kam es dazu? Grundsätzlich gab es zwei Wege dahin. Der eine Weg bestand für die Unternehmen darin, die Tarifverträge im Einvernehmen mit Beschäftigten und lokalen Betriebsräten einfach nicht anzuwenden. Dies wäre zu früheren Zeiten in Westdeutschland völlig undenkbar gewesen. Es geschah offenbar häufig in den 1990er-Jahren, als viele Unternehmen in größte Existenznöte gerieten und aus den tariflichen Bedingungen einfach ausstiegen. Sie taten dies entweder durch Anwendung vorab vereinbarter Notklauseln oder durch Vertragsverletzung, aber mit stillschweigender Duldung durch die Arbeitnehmerschaft, die bei der hohen Arbeitslosigkeit davor zurückschreckte, die eigenen Arbeitsplätze zu gefährden.
    Der zweite Weg bestand darin, als neu gegründetes Unternehmen gar nicht erst Mitglied in einem Arbeitgeberverband zu werden. In diesem Fall kamen ohnehin betriebliche Vereinbarungen zum Zuge, die sich nicht an den Tarifverträgen der Treuhandanstalt orientieren mussten. Die Statistiken der späten 1990er-Jahre zeigen, wie mächtig diese Tarifflucht ausfiel. So gaben 1998 in einer Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) immerhin 79 Prozent aller Unternehmen in den neuen Ländern an, nicht Mitglied eines tariffähigen Arbeitgeberverbandes zu sein. Besonders stark war die Verbandsabstinenz unter eigenständigen Unternehmen (85 Prozent) und Neugründungen (88 Prozent), etwas niedriger, aber noch immer hoch bei westdeutschen oder ausländischen Zweigbetrieben (60 Prozent) und privatisierten Treuhand-Unternehmen (67 Prozent). So kam es, dass bereits 1998 insgesamt mehr als die Hälfte aller Industriebeschäftigten im Osten in tariflich nicht gebundenen Betrieben arbeiteten. Bei neu gegründeten Unternehmen lag der Anteil sogar bei fast drei Viertel.
    Im Ergebnis bedeutete dies das Ende des Flächentarifvertrags in Ostdeutschland. Es war eine stille Revolution, die sich in den Betrieben und am Arbeitsmarkt abspielte. Sie geschah fast geräuschlos, ohne politische Auseinandersetzung, einfach erzwungen durch die normative Kraft des Faktischen. Es zeigte sich, dass in einer praktisch deindustrialisierten Wirtschaft, in der über 20 Prozent der Erwerbspersonen – offen oder verdeckt – arbeitslos waren, die tariffähigen Verbände keine

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