Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
diese Herausforderung? Gab es Anpassungen, die für mehr Beschäftigung sorgten? Und wenn ja, wie sahen sie aus und wem nutzten sie?
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Von zentraler Bedeutung ist zunächst die Entwicklung der Lohnkosten: In einem Arbeitsmarkt, der funktioniert, sorgt eine dauerhaft erhöhte Arbeitslosigkeit durch die Konkurrenz der Arbeitnehmer um die knappen Arbeitsplätze für einen ebenso dauerhaften Druck auf die Entwicklung des Lohnniveaus. Schaubild 8a zeigt die Entwicklung von Löhnen und Preisen für den gesamten Zeitraum der chronischen Arbeitslosigkeit, also ab 1973 bis 2010. Das Bild ist bemerkenswert. Im Trend nahmen die Zuwachsraten von Löhnen und Preisen kontinuierlich ab. Gleichzeitig verlor zwar auch der Fortschritt der Arbeitsproduktivität an Dynamik, aber das Gesamtergebnis war doch eine säkulare Abnahme der realen Lohnstückkosten – als Maß für das Verhältnis von Lohn und erwirtschaftetem Marktwert der Produktion ( Schaubild 8b ): Von ihrem Höhepunkt 1974 bis zu ihrem vorläufigen Tiefpunkt 2007 sanken die Lohnstückkosten um beachtliche 15,2 Prozent. Die Veränderungsrate im Durchschnitt dieser 33 Jahre betrug mithin minus 0,5 Prozent. Tatsächlich gibt es nur ganz wenige Jahre seit 1975, in denen die Lohnstückkosten ausnahmsweise stiegen, zumeist im Übergang vom Boom zur konjunkturellen Beruhigung oder gar Rezession, wie zum Beispiel Anfang der 1980er- und der 1990er-Jahre sowie ab 2008, als Deutschland in die schärfste Konjunkturkrise der Nachkriegszeit rutschte. 40 Genau dies waren aber rein zyklische Phänomene, weil kurzfristig die Produktion stärker zurückgefahren wurde als die Beschäftigung; mit dem längerfristigen Trend haben sie nichts zu tun. Jedenfalls hat es eine Welle starker (und irreversibler!) Lohnsteigerungen wie in den frühen 1970er-Jahren nie mehr gegeben.
Es war also nicht nur eine Zeitenwende in der Höhe der Arbeitslosigkeit, die sich mit der Rezession 1974/75 einleitete. Es war auch eine Wende in der Lohnentwicklung. Ein historischer Blick auf die jährlichen Reallohnzuwächse von 1951 bis 2010 macht dies deutlich ( Schaubild 9 ): hohe Zuwächse von den 1950er- bis in die frühen 1970er-Jahre und danach eine deutlich abgeschwächte Dynamik, die immer mehr an Kraft verliert – bis hin zu mehreren Jahren der Reallohnsenkungen im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, als die Arbeitslosigkeit ihr Hochplateau erreicht hatte. All dies deutet darauf hin, dass die chronische Unterbeschäftigung auch einen nachhaltigen und dauerhaften Druck auf die Lohnkosten der Arbeitgeber und damit auch die Verdienstmöglichkeiten der Arbeitnehmer ausgeübt hat.
Eben dies war die harte Realität für die Babyboomer, die 73er, im Unterschied zur Welt der älteren 68er und Vor-68er. Zunächst traf es dabei die Westdeutschen. Vorbei war ab Mitte der 1970er-Jahre die Zeit, als der kräftige Aufwind der Nachkriegsexpansion noch alles Wünschenswerte gleichzeitig garantierte: hohe Lohnsteigerungen, ein großes Maß an Arbeitsplatzsicherheit, beste Aufstiegschancen, rosige Zukunftspläne. Die westdeutsche Babyboomer-Generation musste nun mit ganz anderen Bedingungen leben: harte Konkurrenz um knappe Ausbildungs- und Arbeitsplätze, Lohnzurückhaltung bei Tarifabschlüssen, Lohnverzicht zur Sicherung von Einstiegs- und Karrierechancen, pragmatische Beschränkung auf Erreichbares statt Visionen und große Entwürfe, die in Anbetracht des täglichen Lebenskampfes zunehmend utopisch wirkten. Zwar gab es für die allermeisten, die Arbeit fanden, im Gleichschritt mit dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum einen kontinuierlichen Anstieg des Lebensstandards und auch Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs; aber die bewegten sich doch in einem überschaubaren Rahmen im Vergleich zu dem steilen Weg nach oben, den die frühere Generation nehmen konnte.
Noch viel schwieriger war der Wandel für die nachfolgende ostdeutsche Generation der Babyboomer, als sie in die Wirtschaftswelt des wiedervereinigten Deutschlands einstiegen. Vorbei war für sie ab 1990 die Zeit, in der Arbeitsplatz und soziale Position durch planwirtschaftliche Protektion auf ewig gesichert schienen – in einer Welt, in der praktisch alles knapp war und nur auf Zuteilung wartete. Nun plötzlich war vor allem eines knapp: die Anzahl der Arbeitsplätze. Und mit der neu gewonnenen Freiheit verband sich deshalb stets das Gefühl, alles tun zu müssen, um irgendwie Arbeit zu finden, auch wenn sie nicht sonderlich gut bezahlt wurde und
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