Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
die Zeit der hohen Arbeitslosigkeit, in der ein Teil der Erwerbspersonen es enorm schwer hatte, überhaupt ein Markteinkommen zu erzielen. Die Arbeitswelt hatte zwei Seiten, drinnen und draußen, und wer draußen war, der rutschte natürlich im Einkommen nach unten. Anders als in Amerika war die Spaltung der Gesellschaft die Konsequenz der Arbeitslosigkeit, und die wird zurückgehen.
Und noch eines ist anders: Die deutsche Industrie hat überlebt, und zwar als wesentliches Standbein der Wirtschaft. Zugegeben, auch sie schrumpfte und errichtete Zweigwerke im Ausland, um die Weltmärkte bestmöglich bedienen zu können. Aber was blieb, war groß, stark und wettbewerbsfähig genug, um ab Mitte des letzten Jahrzehnts wieder jene gut ausgebildeten Fachkräfte aufzusaugen, die in den Krisen der letzten Jahrzehnte so gelitten hatten. Mehr als das: Auch die junge Generation fand gute Arbeit, es kam zum neuen deutschen Jobwunder. Möglich machte dies die Innovationskraft der guten alten Industrie.
Aber halt, wird dies nicht doch heißen, dass auch in Deutschland die reichen Kreativen gewinnen und die Normalbürger verlieren? Nicht ganz, denn die Demografie wird dafür sorgen, dass gerade die intelligenten Jungen schnell knapp und teuer werden, und das sind meistens (noch) nicht die Reichen. Wichtiger noch aber sind die Wellen der Anpassung, die von der allgemeinen Knappheit der Arbeitskraft ausgelöst werden: Wer noch billig zu haben ist, wird nachgefragt und dann auch schnell teurer; und wem es an beruflicher Qualifikation fehlt, der kann auf die Unterstützung der Unternehmen zählen, und zwar aus rein betrieblichem Eigeninteresse. Im Ergebnis profitieren alle vom steigenden Lohnniveau. Also: Vielleicht nicht „coming together“, aber wenigstens nicht „coming apart“ – dank Industrie und Vollbeschäftigung.
Vieles hängt also davon ab, was Menschen im siebten Lebensjahrzehnt noch an Herausforderungen bewältigen können. In der Zeit der Abundanz junger Arbeitskräfte hat sich dabei eine Art Konsens herausgebildet, dass Ältere in ihrem körperlichen und kognitiven Potenzial nach Überschreiten des 60. Lebensjahrs stark nachlassen. Neuere Untersuchungen, die sich genau mit dieser Frage beschäftigen, bestätigen dieses Bild nicht. Tatsächlich zeigen Indikatoren für den (subjektiv bewerteten) Gesundheitszustand sowie die (objektiv) gemessene geistige und körperliche Verfassung von 60- bis 70-Jährigen, dass die Leistungskraft bei den beruflich Aktiven sich kaum verschlechtert. Der zentrale Befund lautet: In jeder Altersstufe teilen sich die Menschen in zwei Gruppen ein, „Gesunde“ und „Kranke“ (oder genauer: „weniger Gesunde“), wobei die Gesunden durchweg im siebten Lebensjahrzehnt die große Mehrheit ausmachen (rund drei Viertel aller). Unter den Gesunden lässt aber die geistige und körperliche Verfassung in diesem zehnjährigen Lebensabschnitt nur minimal nach. Studien zur Wirkung des Ruhestands zeigen schließlich, dass der Ruhestand selbst dazu führt, dass die kognitiven Fähigkeiten der Menschen nachlassen und sich häufig – nach einem ersten Genießen der neuen Freiheit – psychische und körperliche Gebrechen einstellen. 95 Kurzum: Es deutet vieles darauf hin, dass ältere Menschen im siebten Lebensjahrzehnt sehr wohl zu mobilisieren und zu motivieren sind, sich höchst aktiv an der Arbeitsteilung der Zukunft zu beteiligen. Dies wird in der Zukunft von großer volkswirtschaftlicher Bedeutung sein.
Aus alledem folgt: Das statische Bild einer unabänderlichen Lücke der Produktivität zwischen Jung und Alt greift zu kurz. Es spricht vieles dafür, dass die Knappheit an „fluiden“ Fähigkeiten einen umfassenden und tief greifenden Wandel der betrieblichen Strukturen nach sich ziehen wird. Der Prozess könnte Ähnlichkeiten haben mit jenem Schub an vertikaler Mobilität, den die Knappheit an Arbeitskräften in den 1960er-Jahren in Deutschland (und in Westeuropa insgesamt) auslöste. Damals sorgte der demografische Wandel für eine extreme Knappheit an qualifizierten Fachkräften insgesamt. Die Folge war keineswegs eine Stagnation des Wachstums der Produktivität, sondern fast das genaue Gegenteil: Die Unternehmen in Deutschland investierten in die Qualifikation ihrer Arbeitskräfte, übertrugen ihnen größere Verantwortung und besetzten die verwaisten Stellen für einfache Arbeit mit Zuwanderern aus Südeuropa. Auch praktisch ohne aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates kam es zu einer
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