Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
kraftvollen Eigendynamik der beruflichen Ausbildung, und zwar allein auf betrieblicher Ebene. 96
Wichtig ist allerdings: Der betriebliche Strukturwandel muss von den Tarifvertragsparteien zugelassen, besser noch aktiv unterstützt werden. Dies heißt vor allem: Das traditionelle Muster der Lohnstruktur muss sich wahrscheinlich stark verändern. Der Wandel hat dabei viele Dimensionen, aber die alles dominierende ist die Veränderung der relativen Preise zwischen „fluiden“ und „kristallinen“ Fähigkeiten. Zu vermuten ist, dass sich dies zugunsten der Jungen, der Frauen und überhaupt der intelligenten Newcomer auswirkt, und zulasten der Älteren, der Männer und der „Alteingesessenen“. Genau deren Interessen sind aber typischerweise in den mächtigen Lobbyorganisationen des Arbeitsmarkts überrepräsentiert, und zwar auf beiden Seiten, in Arbeitgeberverbänden und in Gewerkschaften.
Auch die Politik kann diesen Strukturwandel nachhaltig befördern. So sollte sie keinesfalls Regeln schaffen oder zementieren, die der flexiblen Anpassung betrieblicher Strukturen der Gehälter und der Verantwortung entgegenwirken. Dies gilt für den Arbeits- und Kündigungsschutz genauso wie für den gesetzlichen Rahmen der Tarifverträge und die betriebliche Mitbestimmung. Auch die Arbeitsmarktpolitik kann helfen: Sie sollte verstärkt versuchen, die Mobilisierung älterer Menschen zu erleichtern. Dazu gibt es eine breite Palette von Möglichkeiten – vom Unterstützen der Weiterbildung auf betrieblicher Ebene bis zu Programmen der Gesundheitsförderung. 97 Auch die Einwanderungspolitik in Deutschland (und auch anderen Industrienationen) sollte die neuen Knappheiten im Auge behalten. Das heißt konkret: Zuwanderung vor allem von Menschen, die einen wesentlichen Beitrag zum Angebot an „fluiden“ kognitiven Fähigkeiten liefern, also: junge, gut ausgebildete Fachkräfte. Allerdings geht dies im Zweifelsfall zulasten der Herkunftsländer der Zuwanderer, die ein wichtiges Potenzial hochproduktiver und innovativer Arbeitskräfte verlieren. Genau diese Frage wird uns vor allem aus europapolitischer Sicht noch in Kapitel 3 ausführlich beschäftigen. 98
Blue Card Blues:
Noch fehlt eine deutsche Einwanderungspolitik
Es ist eigentlich schon ein altes Thema: Seit den 1990er-Jahren wird hierzulande darüber nachgedacht, die Zuwanderung zu liberalisieren. Ein erster Versuch wurde mit der Einführung der „Greencard“ gemacht – im Rahmen des sogenannten Sofortprogramms zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs, wie es in gestelztem Bürokratendeutsch hieß. Das Programm lief von 2000 bis 2004. Es war kein wirklicher Erfolg, denn zu gering war das Interesse der Zielgruppen in Entwicklungsländern, in Deutschland Arbeit zu suchen. Auch die politische Debatte missriet gründlich. Das Motto „Kinder statt Inder“, das ein damaliger Spitzenpolitiker prägte, ließ Deutschland nicht gerade als weltoffene Nation erscheinen.
Daran änderte auch das neue Zuwanderungsgesetz, ab 2005 in Kraft, nur wenig. Es regelte die Verfahren der Einbürgerung vor allem mit Blick auf das Feststellen von Sprachkenntnissen, sah aber keine wesentlichen Erleichterungen für die Immigration oder auch nur für das Arbeiten von Ausländern in Deutschland vor. Hauptgrund dafür war zweifellos die unverändert hohe Arbeitslosigkeit: Bis Mitte des letzten Jahrzehnts fehlte der Öffentlichkeit noch jede Fantasie, sich vorzustellen, dass sich alsbald ein Fachkräftemangel abzeichnen könnte.
Erst in jüngster Zeit begann sich dies zu ändern. Die Politik hat reagiert: Im April 2012 beschloss die Regierungsmehrheit des Bundestags, die sogenannte „Blue Card“ einzuführen. Damit nutzte sie eine gesetzgeberische Möglichkeit, die durch eine Direktive der Europäischen Union zur „Blue European Labour Card“ im Jahr 2009 geschaffen wurde. Die deutsche Blue Card beseitigt Hemmnisse für den Zuzug von Akademikern und Fachkräften aus Ländern außerhalb der Europäischen Union. Vor allem senkt sie den Mindestverdienst, der nachgewiesen werden muss, und zwar auf 45.000 Euro, in sogenannten Mangelberufen 35.000 Euro Jahresgehalt. Dies war einer der Gründe, warum die SPD-Opposition die Zustimmung zu dem Gesetz verweigerte. Sie sah darin ein Tor zum Lohndumping durch Auslandskonkurrenz.
Eine merkwürdige Argumentation: Zeichnet sich nämlich wirklich eine Knappheit an Fachkräften in Mangelberufen ab, so ist kaum damit zu rechnen, dass ein ausländischer Einsteiger
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