Vollbeschaeftigt - das neue deutsche Jobwunder
anregen.
Eine solche neue Arbeitsteilung hat weitreichende Folgen. Sie wird zunächst bedeuten, dass für „kristalline“ Aufgaben junge Fachkräfte praktisch nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Unternehmen werden versuchen, den Übergang talentierter junger Menschen vom „fluiden“ zum „kristallinen“ Bereich möglichst lange hinauszuzögern – und zwar vor allem dadurch, dass neue Aufstiegsmöglichkeiten und Chancen der Weiterbildung im „fluiden“ Bereich geschaffen werden. Die traditionelle Hierarchie der Seniorität – der Aufstieg vom „Fluiden“ zum „Kristallinen“ als Beförderung mit erweitertem Verantwortungsbereich und höherer Bezahlung – wird ins Wanken geraten. Führungsaufgaben werden völlig neu definiert und geteilt, möglicherweise im Sinne einer mehr horizontalen Organisation, in der ein begabter „Techniker“ sich sehr lange dem Zugriff „kristalliner“ Vorgesetzter entziehen kann.
Damit nicht genug. Sind die teuren begabten Jungen im „fluiden“ Bereich gebunden, ergibt sich eine verstärkte Nachfrage nach den – relativ preiswerten – älteren Arbeitskräften. Allein die Aussicht auf eine längere Lebensarbeitszeit erhöht den Anreiz für jedes Unternehmen, in die Fähigkeiten auch der älteren Arbeitskräfte mehr zu investieren. Wird zum Beispiel das siebte Lebensjahrzehnt zum selbstverständlichen Teil der Arbeitsplanung, dann steigt die Rentabilität von Ausbildungsprogrammen im sechsten Lebensjahrzehnt massiv an, und zwar für das Unternehmen genauso wie für die Beschäftigten selbst. Damit wiederum werden sich auch im Ausbildungsbereich völlig neue didaktische Angebote für Ältere entwickeln: Nicht mehr der reine Konsum von Wissen wie etwa beim Seniorenstudium wird im Vordergrund stehen, sondern wirklich noch der Erwerb von Fähigkeiten. Zu bedenken ist dabei, dass künftige Generationen von älteren Arbeitskräften sich fast nur noch aus Menschen zusammensetzen werden, die in ihrem Arbeitsleben mit der neuen Welt der Informationstechnologie vertraut geworden sind. Dies gilt selbst noch für die späteren Jahrgänge der Babyboomer-Generation.
Auseinanderfallen oder Zusammenwachsen?
Gedanken zur Einkommensverteilung in Deutschland
Coming Apart , so lautet der provokante Titel eines wichtigen Buches, das jüngst in den Vereinigten Staaten erschien. Charles Murray, der Autor, liefert darin eine brisante Diagnose: Amerika verwandelt sich in eine Klassengesellschaft. Oben steht die kleine Schicht der Kreativen – mit hohen Einkommen, anspruchsvollen Berufen, durchdachtem Lebensstil sowie hoher Sensibilität für Gesundheit, Bildung und Erziehung: Unten dagegen bleibt die Masse der normalen Amerikaner, die für mäßige Löhne durchschnittliche Arbeit abliefern und sich mehr schlecht als recht durchs Leben schlagen, mit hohen Scheidungsraten, Übergewicht, Fernsehen und Kindern, die nicht in die Top-Schulen gehen und nie eine Top-Universität besuchen werden.
Der Autor belegt seine Diagnose überzeugend, und zwar für das weiße Amerika. Was er beobachtet und seziert, das hat also nichts zu tun mit der traditionellen Spaltung des Landes nach Rassen, denn die hat sogar eher abgenommen. Es geht um ein neues Phänomen: der Schwund einer breiten bürgerlichen Mittelschicht. Ein Hauptgrund für diese Entwicklung ist wirtschaftlich: die Schrumpfung der amerikanischen Industrie. Die Vereinigten Staaten sind eine Nation, in der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe selten geworden sind. Nicht einmal jede fünfte Erwerbsperson hatte im Jahr 2010 ihren Job im „manufacturing“. Längst ist das verarbeitende Gewerbe abgewandert – nach Mexiko, China oder wo auch immer hin, durch „outsourcing“ und „offshoring“. Und mit der Industrie verschwanden die Arbeitsplätze für Facharbeiter, das klassische Sprungbrett für den Wohlstand des Mittelstands und die Treppe zum amerikanischen Traum. Es blieben die Dienstleistungen, mit höchst anspruchsvollen Jobs für Kreative, aber auch vielen einfachen Tätigkeiten vom Straßenkehrer bis zum Kassierer im Supermarkt. Steht uns in Deutschland Ähnliches bevor? Wird auch der deutsche Traum von der gediegenen bürgerlichen Existenz zerstört, sobald die Innovationskraft wirklich knapp wird? Kommt auch bei uns die Segregation der Kreativen? Tatsächlich gibt es Anzeichen, die Besorgnis erregen. So ist seit den 1980er-Jahren eine Zunahme der Ungleichheit in der Einkommensverteilung zu beobachten. Allerdings war dies genau
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