Volle Kanne
sie eine von Bens Spritzen und eine Packung mit in Folie eingeschweißten, mit Alkohol getränkten Tupfern in die Hand und begab sich dann auf die Suche nach ihrem Mann. Das Erdgeschoss war leer.
Sie stieg die Treppe hinauf, blieb kurz stehen, um tief durchzuatmen, und ging dann weiter. Ben saß in einem der Gästezimmer, gefesselt und geknebelt. »Oh, mein Gott!«, stöhnte sie entsetzt. Sie hastete zu ihm hinüber und riss ihm den Knebel aus dem Mund. »Alles in Ordnung?«, flüsterte sie verzweifelt.
»Du darfst nicht hier oben sein.«
»Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht. Gib mir rasch meine Spritze, und geh dann wieder.«
»Irgendwelche Symptome?«
»Ich habe Durst. Lydia, bitte …«
Sie reinigte die Gummikappe der Ampulle. Ihre Hände zitterten so stark, dass ihr das Glasfläschchen aus den Fingern rutschte. Schwankend bückte sie sich, um es aufzuheben, und hielt sich an Bens Arm fest, um nicht hinzufallen.
»Liebling, du musst dich beruhigen«, flüsterte er.
»Ich habe Maggie getroffen.« Sie schluckte mühsam ihre Tränen hinunter. »Ich hätte sie warnen sollen, Ben. Ich hätte ihr alles erzählen sollen. Er wird ihr wehtun, das weiß ich.« Die Worte sprudelten unkontrolliert aus ihrem Mund. »Ich kann nicht mehr klar denken. Ein paarmal wäre ich mit dem Wagen beinahe von der Straße abgekommen. Er hat die Vorhänge zugezogen. Niemand wird ihn schnappen können. Er wird dich umbringen, wenn er jemanden vor dem Haus vermutet.« Ihre Wangen waren feucht. »Sag mir, was ich tun soll! Bitte …«
»Gib mir die Spritze.«
Lydia rieb erst die Gummikappe der Ampulle und dann Bens Arm mit Alkohol ab. Sie zog das Insulin auf und steckte die Ampulle mit dem Rest in ihre Tasche. Als sie die Nadel hob, bemerkte sie, dass Bens Gesichtsausdruck sich veränderte. Sie drehte sich um.
Carl Lee Stanton stand im Türrahmen. »Was tust du hier oben?« Seine Stimme klang so bedrohlich, wie die Waffe in seiner Hand aussah.
»Mein Mann braucht sein Insulin.«
»Geh weg von ihm.«
»Was?«
Carl Lee spannte den Hahn seiner Waffe.
»Tu, was er sagt«, befahl Ben seiner Frau.
Lydia trat einen Schritt zur Seite. »Mr. Stanton …«
»Halt dein Maul.« Carl Lee kam zu ihr herüber und nahm ihr die Spritze aus der Hand. Sie runzelte die Stirn.
»Wo ist die Insulinampulle?«, wollte er wissen.
»Was?« Sie starrte ihn eine Weile schweigend an. »Die Apotheke war schon geschlossen, als ich dort ankam«, behauptete sie dann. »Ich musste den Rest aus der alten Ampulle verwenden.«
»Du lügst.«
»Sehen Sie im Badezimmer im Abfalleimer nach. Ich habe sie soeben weggeworfen. Ich muss noch einmal los, und ich muss seinen Arzt anrufen. Die Apotheke im Wal-Mart hat noch geöffnet.«
»Du wirst nirgendwohin gehen.«
»Sie haben mich nicht verstanden«, wandte sie ein.
»Nein, Lydia, du hast mich nicht verstanden.« Er drückte die Spritze herunter, so dass das Insulin herausspritzte.
Zack parkte Maggies Wagen so nah an der Hintertür wie möglich. »Ihr bleibt noch ein paar Sekunden sitzen«, befahl er und drückte auf die Zentralverriegelung, als er ausstieg. Dann sahen Bill und er sich gründlich um.
Mel rutschte auf dem Rücksitz hin und her. »Das ist so dumm«, seufzte sie.
Maggie bemühte sich nicht, ihren Ärger zu verbergen. »Es ist nicht dumm. Dumm ist, dass ich dich nicht gezwungen habe, nach Charleston zu fahren. Ich hätte dich einfach dorthin bringen sollen, notfalls mit Gewalt, anstatt mich von dir überreden zu lassen, dass du hierbleiben darfst.
Das
nenne ich dumm, Mel. Morgen werde ich dich nach Charleston bringen, und wenn ich dich jeden Schritt eigenhändig hinter mir herschleifen muss.«
»Was?«
»Ich werde Cheryl noch heute Abend anrufen und alles organisieren. Und du wirst tun, was ich dir sage, sonst musst du mit ernsthaften Konsequenzen rechnen.« Maggie legte eine Pause ein und atmete tief durch. Jetzt war das Maß voll – ihre Tochter hatte es eindeutig zu weit getrieben.
»Ich hasse es, bei dir zu leben! Ich wünschte, ich wäre an irgendeinem anderen Ort, nur nicht hier!«
Maggie drehte sich zu ihr um. »Das sind großartige Neuigkeiten«, sagte sie laut, »denn du wirst jetzt eine Weile bei Cheryl wohnen. Und wenn du wieder nach Hause kommst, wirst du eine Zeitlang in deinem Zimmer bleiben. Ich habe sogar noch bessere Neuigkeiten für dich. Bis ich dich wieder aus dem Haus lasse, wirst du alt genug sein, um dich mit Jungs zu verabreden.«
Als die Türschlösser klickten,
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