Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Alter, doch der müde Ausdruck in seinen Augen lässt ihn älter wirken. Er sieht aus wie einer, der schon mehr erlebt hat, als einer in seinem Alter erleben sollte. Gleichzeitig erscheint er ihr merkwürdig zart.
»Wir wollten nicht riskieren, dass ihr verletzt werdet, und ihr solltet auch nicht erfahren, wo wir euch hinbringen. Es war die einzige Möglichkeit, euch zu retten.«
»Uns zu retten?«, fragt Miracolina. »So nennst du das?«
»Na ja, es kommt dir im Moment vielleicht nicht so vor, aber ja, genau das haben wir getan.«
Da auf einmal erkennt Miracolina ihn. Eine Welle der Wut erfüllt sie und ein Brechreiz steigt in ihr auf. Von allen Schwierigkeiten, die hätten auftauchen können – warum muss sie ausgerechnet das erleben? Warum muss sie ausgerechnet ihm in die Hände fallen? Sie weiß, dass der Zorn, der Hass, den sie verspürt, nicht gut für ihre Seele ist, gerade jetzt, so kurz vor ihrem Zehntopfergang. Aber sosehr sie sich auch bemüht, sie kann ihn nicht abschütteln.
Da keucht Timothy und reißt die wässrigen Augen auf.
»Du bist das!«, ruft er mit einer Begeisterung, die sich Jungs wie er normalerweise für Sportstars aufheben. »Du bist das Zehntopfer, das zum Klatscher geworden ist! Du bist Levi Calder!«
Der Junge ihm gegenüber nickt und lächelt. »Ja, aber meine Freunde nennen mich Lev.«
3.
Cam
Handgelenke, Fußgelenke, Hals. Festgeschnallt. Es juckt. Überall. Kann mich nicht rühren.
Er bewegt die gefesselten Hand- und Fußgelenke. Hin und her, auf und ab. Das hilft gegen das Jucken, aber nun brennt es.
»Du bist wach«, sagt eine Stimme, die vertraut ist und doch wieder nicht. »Gut. Sehr gut.«
Er dreht den Kopf. Keiner da. Um ihn herum nur weiße Wände.
Das Scharren von Stuhlbeinen. Näher, immer näher. Die Person, die gesprochen hat, taucht verschwommen vor ihm auf, stellt den Stuhl so hin, dass er sie sehen kann. Setzt sich. Schlägt die Beine übereinander. Lächelt, aber nicht richtig.
»Ich habe mich schon gefragt, wann du aufwachen würdest.«
Sie trägt eine dunkle Hose und eine Bluse. Das Muster der Bluse ist zu verschwommen, als dass er es erkennen könnte. Die Farbe. Was ist das für eine Farbe? Er kann die Farbe nicht genau ausmachen.
»Sonne. Nein. Himmel. Nein«, sagt er zögernd. »Gelb. Blau. Nein.« Er stöhnt. Die Kehle tut ihm weh beim Sprechen, und die Worte kommen als Krächzen heraus. »Gras. Bäume. Teufelskotze.«
»Grün«, sagt die Frau. »Das ist das Wort, nach dem du suchst, oder? Meine Bluse ist grün.«
Kann sie Gedanken lesen? Vielleicht nicht. Vielleicht ist sie nur sehr klug. Ihre Stimme ist sanft. Sie klingt gebildet, hat überhaupt keinen Akzent. Vielleicht ein bisschen britisch. Instinktiv vertraut er ihr.
»Kennst du mich?«, fragt sie.
»Nein. Ja«, sagt er. Seine Gedanken sind noch fester verschnürt als er selbst.
»Das ist verständlich«, erklärt die Frau. »Es ist ja alles völlig neu für dich – da hast du sicher Angst.«
Bis zu diesem Moment ist ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass er Angst haben müsste. Aber nun, da die Frau in der grünen Bluse und mit den übereinandergeschlagenen Beinen es sagt, muss er sich wohl fürchten. Er zerrt an den Fesseln. Das Brennen und Jucken wächst sich zu etwas Stärkerem aus, und mit ihm kommen Erinnerungsfetzen, die er laut aussprechen muss.
»Hand auf Ofen. Gürtelschnalle – nein, Mom, nein! Vom Rad gefallen. Arm gebrochen. Messer. Er hat auf mich eingestochen!«
»Schmerz«, sagt die Frau in der grünen Bluse ruhig. »›Schmerz‹ ist das Wort, nach dem du suchst.«
Es ist ein magisches Wort, denn es beruhigt ihn. »Schmerz«, wiederholt er, spürt dem Wort auf seinem Weg über fremde Stimmbänder und ungewohnte Lippen nach. Er gibt seine Gegenwehr auf. Der Schmerz schwächt sich ab zu einem Brennen und das Brennen verwandelt sich wieder in ein Jucken. Doch die Gedanken, die mit dem Schmerz kamen, sind noch da. Die verbrannte Hand, die wütende Mutter, der gebrochene Arm, ein Messerkampf, den er nie ausgefochten, der aber trotzdem stattgefunden hat. Er weiß nicht, wie, aber all das hat er erlebt.
Er wendet den Blick wieder der Frau zu, die ihn mit kühlem Blick fixiert. Nun kann er sie besser erkennen und ihm fällt auch das Muster ihrer Bluse auf.
»Kaba … Figaro … Kasko.«
»Versuch es weiter«, sagt die Frau. »Es ist da drin.«
Er zermartert sich das Gehirn. Das ist anstrengend wie ein Wettlauf. Ein langer, erschöpfender olympischer Wettlauf. Wie
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