Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
heftig. Dabei sieht er ihm fest in die Augen, was Lev merkwürdig findet.
»Danke. Ganz meinerseits.« Was soll er auch sonst sagen.
»Ich habe gehört, dass du deinen Freund verloren hast und dein Bruder schwer verletzt wurde. Es tut mir sehr leid. Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass sich diese Tragödie nie ereignet hätte, wenn wir schon früher auf dich zugegangen wären.«
Lev betrachtet das Haus. Kaum ein Fenster ist intakt. Vögel fliegen durch die zickzackförmigen Löcher in den kaputten Scheiben ein und aus.
»Lass dich davon nicht in die Irre führen«, sagt Cavenaugh. »Es ist immer noch Leben in diesem Hause. Der äußere Anschein ist in Wahrheit sogar von Vorteil. Das ist eine gute Tarnung für alle, die sonst genauer hinschauen würden.«
Lev kann sich nicht vorstellen, dass jemand hier genauer hinschauen würde. Das Haus liegt in einem eingezäunten Areal auf einer mit Unkraut überwucherten Wiese – ehemals wahrscheinlich ein gepflegter Rasen –, die zu allen Seiten hin von dichtem Wald umgeben ist. Zu sehen wäre das Haus wohl nur von oben.
Cavenaugh stößt eine verwitterte Tür auf und begleitet Lev in das einst großartige Foyer, das heute nicht einmal mehr ein Dach besitzt. Zwei Treppen führen in den ersten Stock, doch die Holzstufen sind überwiegend eingebrochen. Durch die Ritzen im Fußboden wächst Unkraut und drückt die Marmorfliesen nach oben, sodass der Boden sehr uneben ist.
»Hier entlang.« Cavenaugh führt Lev tiefer in die Ruine. Sie folgen einem dunklen Gang, der in gleichermaßen entsetzlichem Zustand ist. Modergeruch hängt in der Luft. Lev kommt gerade zu dem Schluss, dass Cavenaugh völlig verrückt ist und er besser das Weite suchen sollte, als vor ihnen ein Mann eine schwere Tür öffnet und dahinter ein hochherrschaftlicher Speisesaal zum Vorschein kommt.
»Den Nordflügel haben wir restauriert. Im Moment brauchen wir nicht mehr. Die Fenster mussten wir natürlich verbarrikadieren. Es wäre ja verdächtig, wenn in einer verlassenen Ruine nachts Licht brennen würde.«
Der Raum ist nicht annähernd in dem prächtigen Zustand, in dem er früher gewesen sein muss. Farbe blättert von den Wänden und an der Decke sind Wasserflecken zu sehen. Trotzdem ist der Speisesaal wohnlicher als der Rest des weitläufigen Gebäudes. Von oben hängen zwei Kronleuchter herab, die nicht zueinander passen und wahrscheinlich aus anderen Räumen stammen. Drei lange Tische und Bänke zeugen davon, dass viele Menschen hier ihre Mahlzeiten einnehmen.
Am Ende des Saals befindet sich ein riesenhafter Kamin, über dem ein überlebensgroßes Bild von einem Jungen hängt. Zuerst denkt Lev, dass das Gemälde einen der Cavenaughs als Kind darstellt, doch dann schaut er genauer hin.
»Moment mal … ist … bin das ich?«
Cavenaugh lächelt. »Gut getroffen, oder?«
Als er näher kommt, sieht Lev, wie gut es getroffen ist. Zumindest gibt das Porträt hervorragend wieder, wie er vor einem Jahr ausgesehen hat. Auf dem Bild trägt Lev ein gelbes Hemd, das glitzert wie Gold, ja sogar seine Haut hat einen fast göttlichen Glanz. Aus seinem Gesicht sprechen Weisheit und Frieden – der Frieden, den Lev im Leben noch nicht gefunden hat –, und am Fuß des Bildes liegt das weiße Zehntopfergewand, das er metaphorisch mit Füßen tritt.
Lev kann nicht anders: Er muss lachen. »Was soll das denn?«
»Es geht um die Sache, für die du gekämpft hast, Lev. Ich freue mich, sagen zu können, dass wir dort anknüpfen, wo du aufgehört hast.«
Auf dem Kaminsims direkt unterhalb des Porträts stehen und liegen Blumen, handschriftliche Notizen, Schmuck und allerlei Nippes.
»Die Sachen sind ganz von selbst da aufgetaucht, nachdem wir das Bild aufgehängt hatten«, erklärt Cavenaugh. »Wir haben das nicht erwartet, es hätte uns aber klar sein müssen.«
Lev hat noch immer Schwierigkeiten, das alles zu verarbeiten. Wieder kann er nur grinsen. »Sie machen Witze, oder?«
Da steckt eine Frau den Kopf durch eine der Türen und ruft: »Mr Cavenaugh, die Kids werden ungeduldig. Darf ich sie hereinlassen?«
Hinter der stämmigen Frau sieht Lev Jugendliche, die den Hals recken und in den Saal spähen.
»Noch einen Moment, bitte.« Cavenaugh lächelt Lev an. »Wie du dir sicher vorstellen kannst, freuen sie sich alle riesig darauf, dich kennenzulernen.«
»Wer denn?«
»Die Zehntopfer natürlich. Wir haben einen Wettbewerb veranstaltet und sieben herausgesucht, die dich persönlich begrüßen
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