Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
dürfen.«
Cavenaugh erzählt es so selbstverständlich, als ob Lev das alles schon längst wissen müsste. Der aber fühlt sich völlig überfordert.
»Zehntopfer?«
»Ehemalige Zehntopfer natürlich. Sie wurden vor ihrer Ankunft in den entsprechenden Ernte-Camps gerettet.«
Da klickt etwas in Levs Kopf und ihm dämmern die Zusammenhänge. »Teilepiraten – die haben es doch auf Zehntopfer abgesehen!«
»Oh, natürlich gibt es Teilepiraten«, erwidert Cavenaugh, »aber soweit ich weiß, machen die einen großen Bogen um Zehntopfer. Allerdings ist es eine gute Tarnung. Lockt die Jugendbehörde auf die falsche Fährte.«
Dass die Zehntopfer gerettet und nicht etwa auf dem Schwarzmarkt verkauft werden, ist Lev nie in den Sinn gekommen.
»Bist du bereit, unsere kleine Botschaftergruppe zu begrüßen?«
»Klar, warum nicht.«
Cavenaugh gibt der Frau ein Zeichen und die Jugendlichen betreten feierlich und geordnet den Raum; in ihren Schritten spiegelt sich ihre Anspannung. Alle tragen farbenfrohe Kleidung, in der Gruppe ist kein Zipfelchen Weiß zu sehen.
Lev steht nur da und schaut ihnen ein wenig benommen entgegen, während sie ihn einer nach dem anderen begrüßen. Einige starren ihn nur an, nicken kurz und bringen vor lauter Ehrfurcht keinen Ton heraus. Einer schüttelt Lev so kräftig die Hand, dass er ihm fast die Schulter auskugelt. Ein Junge stolpert vor lauter Nervosität und fällt Lev in die Arme. Er läuft puterrot an und geht eilig weiter.
»Dein Haar ist anders«, bemerkt ein Mädchen und beißt sich vor Verlegenheit fast auf die Zunge. »Aber das ist gut! Es gefällt mir! Ich finde es schön!«
»Ich weiß alles über dich«, erklärt ein anderer. »Ehrlich, frag mich, ich kann dir alles beantworten.«
Und obwohl Lev bei dem Gedanken ein bisschen mulmig wird, sagt er: »Na gut: Was ist mein Lieblingseis?«
»Amarena Kirsch!«, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Sie ist natürlich richtig. Lev weiß nicht genau, was er davon halten soll.
»Also … ihr seid alle Zehntopfer?«
»Ja, waren wir«, erwidert ein Mädchen in leuchtend grüner Kleidung, »bis wir gerettet wurden. Jetzt wissen wir, wie falsch das alles war.«
»Ja«, ergänzt ein anderer. »Wir haben gelernt, das Zehntopfer so zu sehen wie du!«
Lev wird angesichts ihrer Bewunderung fast schwindelig. Seit seinen Tagen als Zehntopfer hat er sich nicht mehr so erhaben, so »golden« gefühlt. Nach dem Happy Jack galt er entweder als bemitleidenswertes Opfer oder als Monster, das bestraft werden muss. Doch die Kids hier verehren ihn als Helden. Er kann nicht leugnen, dass ihm das nach allem, was er erlebt hat, guttut. Richtig gut.
Ein Mädchen in schreiendem Lila kann sich nicht mehr beherrschen und wirft die Arme um ihn. »Ich liebe dich, Lev Calder«, ruft sie.
Einer der anderen Jugendlichen zieht sie weg. »Entschuldigung, sie ist ein bisschen impulsiv.«
»Ist schon in Ordnung«, sagt Lev. »Aber ich heiße nicht mehr Calder. Mein Name ist Garrity.«
»Wie Pastor Daniel Garrity!«, platzt der Junge heraus, der alles weiß. »Der vor zwei Wochen bei der Klatscher-Explosion ums Leben gekommen ist.« Der Junge ist so stolz auf seine Kenntnisse, dass er nicht merkt, wie nah Dans Tod Lev geht. »Was macht übrigens dein Trommelfell?«
»Wird besser.«
Cavenaugh, der ein paar Schritte zurückgetreten ist, schickt die Jugendlichen nun wieder weg. »Fürs Erste ist das genug«, sagt er. »Aber ihr werdet alle noch Gelegenheit zu einer persönlichen Audienz bei Lev haben.«
»Audienz?« Bei dem Gedanken muss Lev kichern. »Wer bin ich denn, der Papst?« Aber außer ihm lacht niemand, und ihm schwant, dass der Insiderwitz mit Pastor Dan Realität geworden ist. All diese Kids verehren den Leviathan.
Vierundsechzig. So viele ehemalige Zehntopfer finden in Haus Cavenaugh Schutz und Unterkunft. Lev schöpft Hoffnung wie seit der Verabschiedung des U-17-Gesetzes nicht mehr – des Gesetzes, das so viele Fortschritte wie Rückschritte mit sich brachte.
»Wir geben ihnen eine neue Identität und vermitteln ihnen einen Platz in einer Familie, der wir ihr Geheimnis anvertrauen können«, erklärt Cavenaugh. »Wir bezeichnen das als ganzheitliches Wiedereingliederungsprogramm.«
Cavenaugh führt Lev durch den renovierten Nordflügel. An den Wänden hängen gerahmte Fotos von Lev und neuere Zeitungsausschnitte über ihn. Ein Banner in einem der Flure fordert, dass alle so leben sollten wie er. Sein mulmiges Gefühl weicht
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