Vollendet - Der Aufstand (German Edition)
Spott?«
Lev kann nicht länger schweigen. »Du solltest dich vielleicht nicht mit Menschen umgeben, die so borniert sind wie du.«
Der Blick seines Vater wandert zu Marcus. »Dein Bruder wird mit uns nach Hause kommen«, erklärt er. Und da sein Vater für Marcus’ neue Innereien bezahlt hat, bleibt ihm wohl kaum etwas anderes übrig.
»Und ich?«
Wieder sieht sein Vater ihn nicht an. »Mein Sohn Lev wurde vor einem Jahr geopfert«, sagt er. »Das ist der Sohn, den ich in Erinnerung behalten will. Was dich betrifft, du kannst tun und lassen, was du willst. Mich geht das nichts an.«
»Wenn Marcus aufwacht, sag ihm, dass ich ihm vergebe«, sagt Lev.
»Wofür?«
»Er wird es wissen.«
Und dann geht Lev, ohne sich zu verabschieden.
Im Flur sieht er von Weitem seine Mutter und andere Familienmitglieder im Wartezimmer des vierten Stocks sitzen. Ein Bruder, zwei Schwestern und ihre Ehemänner. Sie sind alle wegen Marcus hier. Keiner wegen Lev. Er zögert und überlegt, ob er hineingehen soll. Werden sie wie sein Vater sein, bitter, unbeugsam und kalt? Oder wie seine Mutter, die ihn schmerzerfüllt umarmt hat, ihm aber nicht in die Augen sehen konnte?
In diesem Moment der Unentschlossenheit beobachtet er, wie sich eine seiner Schwestern bückt und ein Baby hochnimmt. Es ist ein kleiner Neffe, von dem Lev noch gar nichts gewusst hat.
Das Baby ist ganz in Weiß gekleidet.
Lev rennt in sein Zimmer zurück, doch noch bevor er dort ankommt, wallen die Gefühle mit aller Macht in ihm auf. Der Ausbruch beginnt tief in seinem Inneren, und die Schluchzer kommen mit solcher Wucht, dass sich sein gesamter Unterleib verkrampft. Zusammengekrümmt schleppt er sich die letzten Meter in sein Zimmer. Er kann kaum atmen, Tränen schießen ihm in die Augen.
Tief in seinem Innern, in der unvernünftigsten Ecke seines Verstandes – wahrscheinlich dort, wo Kindheitsträume bewahrt werden –, hat er insgeheim gehofft, dass sie ihn vielleicht wieder aufnehmen würden, dass er eines Tages zu Hause willkommen sein würde. Marcus hat immer gesagt, das könne er vergessen, aber die hartnäckige Hoffnung, die tief in Lev schlummerte, ließ sich durch nichts vertreiben. Bis heute.
Er wirft sich auf das Krankenhausbett, drückt das Gesicht ins Kissen und sein Schluchzen geht in ein lautes Heulen über. Der unterdrückte Schmerz des gesamten letzten Jahres strömt aus seiner Seele wie die Niagarafälle, und es ist ihm egal, ob er im tödlichen Strudel des schäumenden Wassers ertrinkt.
Als Lev erwacht, weiß er nicht mehr, wie er eingeschlafen ist. Er muss aber geschlafen haben, denn die Morgensonne flutet ins Zimmer.
»Guten Morgen, Lev.«
Als er den Kopf ein wenig zu schnell zu der Stimme hinwendet, beginnt sich der Raum um ihn herum zu drehen – eine Nachwirkung der Explosion. Seine Ohren klingeln immer noch, aber zumindest das Zucken des linken Ohrs hat sich gelegt.
Auf dem Stuhl am Fußende des Bettes sitzt eine Frau, die für eine Krankenhausmitarbeiterin ein wenig zu elegant gekleidet ist.
»Wer sind Sie denn? FBI? Heimatschutz? Haben Sie auch Fragen? Ich habe aber keine Antworten mehr.«
Die Frau lacht leise in sich hinein. »Ich gehöre zu keiner staatlichen Behörde. Ich vertrete die Cavenaugh-Stiftung. Hast du schon davon gehört?«
Lev schüttelt den Kopf. »Müsste ich?«
Sie reicht ihm eine Farbbroschüre. Als er sie durchblättert, fröstelt es ihn.
»Sieht aus wie der Werbeprospekt eines Ernte-Camps.«
»Wohl kaum«, erwidert sie, offensichtlich verletzt. Die richtige Antwort, jedenfalls für Lev. »Vereinfacht ausgedrückt«, erklärt sie, »besteht die Cavenaugh-Stiftung aus einem Haufen Geld, das eine reiche Familie vor langer Zeit angelegt hat, um Jugendlichen zu helfen, die vom Weg abgekommen sind. Und uns fällt kaum ein Jugendlicher ein, der so weit vom Weg abgekommen ist wie du.«
Sie lächelt ihn verschmitzt an.
»Wie auch immer«, fährt sie fort, »soweit wir wissen, hast du niemanden, bei dem du wohnen kannst, wenn du hier entlassen wirst. Statt dich nun der Jugendbehörde zu überlassen, die dich wohl kaum vor künftigen Klatscherangriffen schützen kann, wollen wir dir ein Zuhause anbieten – mit der vollen Zustimmung der Jugendbehörde natürlich –, wenn du uns im Gegenzug zu Diensten bist.«
Lev zieht unter der Bettdecke die Knie an und weicht ein wenig vor ihr zurück. Gut gekleideten Menschen, die ihm Angebote machen und sie an Bedingungen knüpfen, traut er nicht über den Weg. »Was
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