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Vollendung - Thriller

Vollendung - Thriller

Titel: Vollendung - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Sam, bei seiner Veröffentlichung wurde Die im Stein schlafen in akademischen Kreisen etwas kontrovers aufgenommen – angefangen mit meiner Interpretation dieses Zitats. Was ich meine, ist, dass die herkömmliche Übersetzung Michelangelos aus dem Italienischen das Wort ›nur‹ in der zweiten Hälfte des Zitats hinter das Wort ›kann‹ stellte. Deshalb dachte man jahrelang, das Zitat würde lauten: ›Die Hand des Bildhauers kann nur den Zauber brechen und die Figuren befreien, die im Stein schlafen.‹ Ich will Sie mit den Einzelheiten nicht langweilen, aber bei meinen Recherchen entdeckte ich, dass das Wort ›nur‹ eigentlich am Anfang des Satzes stehen muss. Deshalb lautet das Zitat richtig: ›Nur die Hand des Bildhauers kann den Zauber brechen und die Figuren befreien, die im Stein schlafen.‹ Sehen Sie, wie sich die Bedeutung verändert?«
    »Ja«, sagte Markham geistesabwesend, während er das Zitat studierte. »Es setzt einen völlig anderen Akzent. Der Künstler selbst erlangt höchste Bedeutung, es macht ihn zu etwas ganz Besonderem – weil er, und nur er die Macht hat, die Figuren zu befreien, aus ihrem Schlaf im Innern des Marmors zu wecken.«
    »Genau. Natürlich spricht Michelangelo metaphorisch von dem in einem Marmorblock enthaltenen Potenzial, zu etwas Schönem zu werden, wie auch von der Tatsache, dass dieses Potenzial nur durch die Linse des wahren Genies zu erkennen ist. Aber er spricht auch von der magischen, nichts weniger als göttlichen Verbindung, die er zwischen sich und seinen Schöpfungen wahrgenommen hat, denn von Gott selbst hat Michelangelo nicht nur sein Talent und seine Inspiration empfangen, sondern auch seine Qualen.«
    »Weiter.«
    »Die klassische Tradition, von der Michelangelos Kunst durchtränkt ist – also die humanistische Tradition, die bis auf die alten Griechen zurückgeht –, hielt den männlichen Körper in ästhetischem Sinn für dem weiblichen überlegen. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Homosexualität ein integraler Bestandteil der antiken griechischen Kultur war, aber nicht in dem Sinn, wie wir Homosexualität heute betrachten – oder auch zu Michelangelos Zeit, was das angeht. Und vergessen Sie nicht, dass wir hier ausschließlich von Männern sprechen, denn Frauen wurden im antiken Griechenland für kaum höherwertig angesehen als Vieh. Man muss wissen, obwohl dem Mann so ziemlich jede Art sexueller Heldentaten offen stand, betrachtete man ausschließliche Homosexualität im antiken Griechenland eigentlich mit Stirnrunzeln. Und man definierte einen Mann ziemlich sicher nicht über seine sexuelle Orientierung, wie wir es heute tun. Tatsächlich wurden körperliche Beziehungen zwischen Männern – meist zwischen einem älteren Mann und einem Jüngling zwischen dreizehn und neunzehn – überhaupt nicht unbedingt als sexueller Akt gesehen, sondern als erzieherisches Ritual auf dem Weg zur Mannwerdung. Durch die Erforschung des männlichen Körpers konnten griechische Männer die höchste Form göttlich inspirierter Schönheit erfahren – ein Reich, wenn man so will, in dem sie im Licht der Götter wandeln konnten. Manchmal entwickelte sich die Beziehung zwischen zwei Männern zur tiefen, spirituellen Liebesbeziehung, und aus diesem Grund wird die Liebe zwischen zwei Männern in der griechischen Mythologie viel höher gepriesen als die Liebe zwischen Mann und Frau.
    Eine solche Dynamik sehen wir auch in Michelangelos Skulpturen – die in der Mehrzahl männlich sind. Die weibliche Gestalt ist ihm nebensächlich, und Michelangelos mangelndes Verständnis der weiblichen Anatomie – etwa die unbeholfene Platzierung der Brüste und die Darstellung von Frauen mit breitem, männlichem Körperbau – lässt sich durch sein gesamtes Schaffen verfolgen. Bei einer anderen seiner berühmten Skulpturen zum Beispiel, der Römischen Pietà, sehen wir die Madonna nicht nur mit merkwürdig geformten Brüsten und einem ungewöhnlich massiven Körperbau, der in keinem Verhältnis zur Gestalt des Christus steht, sondern ihr gesamter Körper ist auch in schwere Gewänder gehüllt – fast als wollte Michelangelo sie verstecken .«
    »Ja«, sagte Markham. »Sie haben ein paar hübsche Fotos davon in Ihrem Buch.«
    »Tut mir leid, wenn ich abschweife, Sam, aber was ich meine, ist, dass die männlichen Figuren in Michelangelos Werk immer vorzüglich ausgeführt sind, mit einer Detailliebe und Authentizität, die in keiner Relation zu seinen weiblichen

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