Vollendung - Thriller
Lampenlicht auf den alten Möbeln, den Blättern ihrer zahllosen Pflanzen und den farbenfrohen Tapeten spielte. Aber mehr als das Haus selbst, mehr als das Gefühl, wieder in dem Viertel zu sein, in dem sie aufgewachsen war, genoss sie einfach das Zusammensein mit den Polks. In ihrer Nähe wurde sie sofort ruhig und ausgeglichen – bei Jan und Dan, ihren Ersatzeltern. Dan war Immobilienmakler im Ruhestand – eine seltsame Wahl für die intellektuelle Dr. Polk, aber irgendwie klappte es bei ihnen. Sie waren seit beinahe vierzig Jahren verheiratet, keine Kinder, aber eins der glücklichsten Paare, das Cathy je kennengelernt hatte. Und seit dem Tod ihrer Mutter war sie nicht mehr so dankbar dafür gewesen, bei ihnen sein zu dürfen.
»Du wirst früher oder später mit ihnen reden müssen«, sagte Janet und ließ sich neben ihrem Mann auf dem Sofa nieder. »Das weißt du, oder?«
»Ja«, sagte Cathy.
Janet hatte darauf bestanden, Cathy abzuholen, nachdem sie den Ausschnitt von ihr und Markham im Fernsehen gesehen hatte. Ein wenig Medienaufmerksamkeit war ihr selbst zuteilgeworden, als sie rückwärts aus Cathys Einfahrt fuhr, und ein Reporter – der letzte, der die Stellung hielt, nachdem Cathy das Licht gelöscht hatte – sie fragte, wer sie sei. »Das geht Sie einen feuchten Dreck an!«, hatte sie ihn angefahren. Und trotz des Ernsts der Situation hatte Dan Polk laut lachen müssen, als er diesen Ausschnitt später auf CNN sah.
Wie die Mehrheit der Amerikaner klebten Cathy und die Polks an diesem Abend vor dem T V -Gerät, während die dürftigen Informationen wieder und wieder abgespielt wurden. Die Identität der zweiten Leiche war gegen acht Uhr abends öffentlich gemacht worden. Michael Wenick. Der Junge, der bereits im September verschwunden war, der sieben Straßen von den Polks entfernt gewohnt hatte – und nur zwei von der Straße, in der Cathy aufgewachsen war!
Anders als die meisten Bewohner Rhode Islands hatte Cathy diese Geschichte nur oberflächlich verfolgt. Sie hatte im vergangenen Herbst nicht viel Nachrichten gesehen oder gelesen; hatte viel zu viel Zeit mit ihren wissenschaftlichen Artikeln verbracht. Und in den Monaten nach ihrer Trennung von Steve und dem Verschwinden von Tommy Campbell hatte sie den kleinen Jungen schlicht vergessen, der im Wald um den Blackamore Pond verloren gegangen war – in demselben Wald, in dem sie als Kind nicht spielen durfte, weil ihre Mutter es verboten hatte.
Dafür, dass sie es vergessen hatte, schämte sich Cathy.
Was Cathy noch beunruhigender fand, war, dass sie nicht zwei und zwei zusammengezählt hatte, als sie die grässliche Skulptur mit eigenen Augen gesehen hatte. War die Gestalt im Hintergrund nur nebensächlich gewesen? War sie dermaßen von Tommy Campbell, dem Bacchus , dem Star des Exponats vereinnahmt worden?
Und während die Polks in verblüfftem Schweigen die Nachrichten sahen, saß Cathy auf der anderen Seite des Zimmers und starrte an dem Fernseher vorbei; in ihrem Kopf spulten sich Passagen aus Die im Stein schlafen ab. Sie hatte Janet nichts von der Inschrift im Sockel der Statue und von der möglichen Verbindung zwischen diesem Albtraum und ihrem Buch gesagt – einem Buch, das sie nicht nur als ein Zeugnis von Michelangelos Genie geschrieben hatte, sondern auch als Kritik an einer von Berühmtheit besessenen Kultur, die in einem Federbett der Mittelmäßigkeit schläft. War ihr Erlebnis mit der Skulptur unten in Watch Hill ein Spiegelbild genau dieser Dynamik gewesen? War sie so vereinnahmt, so fasziniert von Tommy Campbell gewesen – dem Footballspieler, der Berühmtheit , für die sie sich einst an ihren Sonntagen Zeit freigeschaufelt hatte –, dass sie nicht einmal an den kleinen Michael Wenick dachte , den Jungen, dessen Verschwinden nicht annähernd so viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden war wie dem Campbells, und der letzten Endes und buchstäblich nur eine Nebenrolle spielte – sowohl in den Köpfen der Rhode Islander als auch im Rahmen dieser Skulptur des Todes?
Versucht dieser Psychopath, dieser Bildhauer des Bacchus etwa im Wesentlichen dasselbe wie ich zu sagen, dachte Cathy. Stellt er Michelangelos Genie als das Maß hin, an dem alles andere gemessen werden sollte? Sagt er ebenfalls: ›Schande über dich, Welt‹, weil du Geringeres akzeptierst und vergötterst?
Vergötterung, dachte Cathy und drehte das Wort hin und her in Gedanken. Früher verehrten sie Bacchus, den Gott des Weins, des Feierns und
Weitere Kostenlose Bücher