Vollendung - Thriller
Figuren steht – einer Detailliebe, die seine Besessenheit von der männlichen Anatomie beweist. Und durch ebendiese makellose Darstellung kommt die klassische Dynamik des antiken Griechenlands nicht nur in der Ausführung von Michelangelos Figuren zum Tragen, sondern auch in seiner Erfahrung bei ihrer Schaffung, denn nur durch seine Arbeit konnte Michelangelo der Vereinigung mit der aus seiner Sicht göttlich inspirierten Schönheit nahe kommen – einer Schönheit, die für ihn nur durch die Hand des Bildhauers zugänglich war.«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie also sagen, dass es Michelangelo ebenso sehr um die Erfahrung des Bildhauens ging wie um das fertige Produkt?«
»Ja. Denken Sie an die Qualen, die der Künstler durchlitten haben muss, weil er mit einer angeborenen Liebe zum Männlichen – sowohl spirituell wie sexuell – zur Welt gekommen ist. Einer Liebe, die für ihn von Gott gegeben und tief in die Natur seiner Gabe selbst eingeflochten war – jene wundersame, nur dem Bildhauer geschenkte Gabe, die im Stein schlafenden Figuren zu befreien. Und so war es genau diese Natur seiner Gabe, die für Michelangelo sowohl Zufluchtsort als auch Gefängnis war. Es war eine Gabe, die ihm ein Gott verliehen hatte, der ihm gleichzeitig verbot, fleischlich mit seinen Figuren zu verkehren – ein Gott, der die Art tiefer, spiritueller Liebe verdammte, die Michelangelo so sehr mit Tommaso Cavalieri ersehnte. Ein Gott, der Michelangelo die Fähigkeit gab, Schönheit zu erschaffen, aber letzten Endes nicht die Erlaubnis, sie zu berühren.«
»Dann spricht Michelangelo also auch von sich selbst. Auch er ist eine im Stein, in der Marmorhülle seiner Homosexualität eingeschlossene Figur, und nur durch den Akt des Bildhauens konnte er, mir fällt kein besserer Ausdruck ein, einen Mann lieben.«
»So könnte man es ausdrücken, ja.«
Markham schwieg lange, und Cathy glaubte, die Gedanken des Special Agents ticken zu hören. Es machte Cathy so nervös, dass sie ihm in groben Zügen den Inhalt ihres sokratischen Dialogs vorhin auf dem Sofa erzählte.
»Ja«, sagte Markham, als sie zu Ende gesprochen hatte. »In Ihrem Buch stellen Sie häufig Michelangelos Künstlertum, ebenso wie die Welt der italienischen Renaissance, der künstlerischen Produktion unserer heutigen Kultur entgegen – besonders in Bezug auf die Medien. Wie sie unsere Kultur dominieren, wie sie diktieren, was wichtig ist, vor allem aber, wie sie auf physische Weise unseren Intellekt formen – ganz wörtlich, unsere physiologische Kapazität, nicht nur Informationen zu verarbeiten, sondern auch Schönheit wertzuschätzen. Sie sprechen von den schädlichen Wirkungen des Internets, von Fernsehen und Filmen, und wie sie unsere Gehirne verändern, sie im Grunde dazu konditionieren, sich nicht nur für kürzere Zeitspannen und weniger gut zu konzentrieren, sondern auch einen Standard zu akzeptieren, der schrittweise sinkt. Im Wesentlichen sagen Sie, dass heute die Qualität des Marmors, aus dem wir als Menschen geformt werden, dürftig ist im Vergleich zu dem metaphorischen Marmor in Michelangelos Zeit.«
»Das ist hübsch gesagt, ja.«
»Und nur die Hand des Bildhauers – sei es die Michelangelos oder des perversen Psychopathen, der Campbell und Wenick ermordet hat – kann uns aus dem Marmorgefängnis der Medien befreien. Unsere Gesellschaft heute, wir Kinder dieser in Berühmtheit vernarrten Kultur, wir sind die Figuren, die im Stein schlafen.«
»Ja, Sam. Das ist genau das, was ich meine.«
»Das würde erklären, warum er Campbell und vielleicht sogar diesen kleinen Jungen ausgewählt hat. Oder vielleicht, warum er sich überhaupt entschieden hat, sie als Michelangelos Bacchus darzustellen – eine Skulptur, in der der Gott, die Berühmtheit, nicht nur kraft seiner Größe und Ausrichtung, sondern auch wegen seiner mythologischen Aufgeladenheit unsere Gedanken dominiert.«
»Es würde außerdem erklären, wieso er über diese Zitate mit mir Kontakt aufgenommen hat, finden Sie nicht? Wie bei der Skulptur war das Medium selbst Teil der Botschaft – genau wie das Zitat zu Beginn meines Buches Teil meiner Botschaft war. Im Wesentlichen wollte mir der Mörder damals sagen: ›Ich habe verstanden.‹«
»Und dann könnte die Inschrift auf dem Sockel der Statue einfach seine Art sein, danke zu sagen.«
»Ja, ich denke schon.«
Sam Markham verstummte wieder, und Cathy hörte durch ihr Handy, wie Seiten umgeblättert
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