Vollendung - Thriller
einzurichten – solange er nicht einen Haufen Leichenteile herumliegen hatte …
Ja. Es war diese Kleinigkeit, die Sam Markham am meisten beunruhigte. Der Ausdruck der Websites von Körperwelten machte überaus deutlich, woher das Institut für Plastination in Heidelberg seine Proben bezog – die Mehrheit davon stammte aus ihrem »Spenderprogramm«, bei dem die Spender auf legalem Weg dem Institut ihre Leichen vermachten, damit sie nach ihrem Tod von Professor von Hagens und seiner Mannschaft plastiniert wurden.
»Aber wer sind diese Leute?«, fragte Markham laut. »Wie heißen sie?«
Markham blätterte den Ausdruck noch einmal durch, konnte jedoch nirgendwo die Namen von Spendern finden. Ja. Es war der Eindruck der Informationen, die er las, der Eindruck, den die ganze Denkweise von Körperwelten, von Hagens und des Instituts für Plastination hinterließ. Eine Denkweise, die trotz einer kurzen und irgendwie seichten Dankesouvertüre an ihre toten und lebenden Spender von ihren Körpern schlicht als Ware, als Material für die breit gefächerte Industrie der anatomischen Studien sprach – einer Industrie, die dringenden Bedarf an plastinierten Körperteilen hatte.
Da er selbst viel mit Leichen zu tun hatte, verstand Sam Markham das Bedürfnis nach Objektivität in der Welt der Medizin und der anatomischen Studien ebenso, wie er es für seinen Arbeitsbereich verstand – er wusste nur zu gut, dass man, um seinen Job erledigen zu können, distanziert bleiben musste beim Blick auf ein Mordopfer. Deshalb sah Markham einerseits das praktische Denken der Industrie durchaus ein – das Bedürfnis, die gespendeten Leichen schlicht als Material zu betrachten. Es war für Markham jedoch ebenso klar, dass im Hinblick auf die Körperwelten-Ausstellungen – bei denen die hautlosen Subjekte gezeigt wurden, wie sie Kaffee tranken, Karateschläge austeilten, sogar auf einem Pferd ritten – die Schöpfer unterbewusst eine Botschaft an die Öffentlichkeit aussandten, die Figuren nicht nur als »mitten im Leben erstarrt« zu sehen, sondern sie gleichzeitig aufforderten, nur auf den Körper selbst zu blicken, vollkommen getrennt von dem echten Leben, das ihn einst angetrieben hatte.
Nein, wir sollen nie fragen, wer diese Menschen in Wirklichkeit waren.
Markham dachte an den Michelangelo-Mörder – an die Art von Geist und Verstand, die nötig waren, um einen Horror wie seinen Bacchus zu erschaffen. In seinen dreizehn Jahren beim FBI hatte Markham gelernt, dass im Kopf eines Serienmörders immer eine gewisse Menge an Objektivierung hinsichtlich der Wahrnehmung seiner Opfer stattfand. Doch bei diesem Michelangelo-Mörder schien alles anders zu sein.
Tommy Campbell und Michael Wenick waren nur Material für seine Ausstellung, sagte er sich. Genau wie die Epoxidharzmischung, das Holz, das Eisen und alles andere. Nur eine Komponente seiner Kunst, seiner Botschaft, seines Strebens, uns aus dem Schlaf zu wecken.
Material.
Markham blätterte zu der Seite in Die im Stein schlafen , die er ein paar Stunden zuvor eingemerkt hatte – zu dem rot unterstrichenen Michelangelo-Zitat: Je mehr der Marmor schwindet, desto mehr wächst die Statue.
Marmor. Michelangelos Material – wovon er einen Teil in großartige Kunstwerke verwandelte, während ein anderer Teil, je nach seiner Lage im Block, dazu verurteilt war, auf dem Atelierboden, dem Abfallhaufen zu landen. Von daher rührten sowohl eine Verehrung für das Material als auch ein Verständnis dafür, dass man einen Teil davon wegwerfen musste.
Leichen. Das Material des Michelangelo-Mörders. Er musste vor Campbell und Wenick schon mit anderen experimentiert haben, er musste Menschen benutzt haben, bis er seine Technik perfektioniert hatte. Einige davon, vielleicht zunächst nur einzelne Teile, verwandelte er in plastinierte Kunstwerke, andere warf er einfach weg. Von daher sowohl eine Verehrung für das Material, den männlichen Körper als den ästhetisch überlegenen, und das Verständnis, dass er einige seiner Opfer vergeuden musste, um Größe zu erlangen.
Marmor. Material. Abfall. Leichen. Die männliche Gestalt als ästhetisch überlegen.
Etwas passte noch nicht ganz zusammen.
Etwas, das so nahe lag, so einfach war und doch so außer Reichweite.
Markham seufzte und schaltete seine Schreibtischlampe aus. Er würde sich zwingen zu schlafen, eine Weile an etwas anderes zu denken. Und als er ins Bett kroch, eilten seine Gedanken sofort zu Cathy Hildebrant. Markham
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