Vollendung - Thriller
gestand sich nur ungern ein, wie sehr er sie in den letzten drei Tagen vermisst hatte, und noch weniger gern, wie sehr er sich darauf freute, sie wiederzusehen. Was ihn jedoch wirklich beunruhigte, war der Gedanke, er könnte etwas Wesentliches übersehen haben, etwas, das die Kunstgeschichtsprofessorin in Gefahr brachte und ihn eine Person verlieren ließ, die ihm endlich wieder etwas bedeutete.
24
S teven Rogers war stolz auf sein jugendliches Aussehen. Mit fünfundvierzig und einem vollen Schopf braunen Lockenhaars, das er regelmäßig färbte, verdankte der Schauspielprofessor sein jugendliches Aussehen vor allem seiner Eitelkeit – und dem unbewussten Verlangen, stets anziehend auf das andere Geschlecht zu wirken. Ja, Steven Rogers lief fünfmal die Woche zehn Kilometer, achtete auf seine Fett- und Kohlehydrataufnahme, benutzte immer noch den Bowflex, den ihm seine Exfrau zum Vierzigsten geschenkt hatte, und lebte, wann immer es ging, nach dem alten Sprichwort, das ihm seine fürsorgliche Mutter als Kind eingetrichtert hatte: » Early to bed, early to rise, Steven, makes a man healthy, wealthy and wise.«
Gesund? Ja. Reich? Er konnte sich eigentlich nicht beschweren. Aber weise? Nun ja, selbst Steven Rogers hätte zustimmen müssen, dass ein endgültiges Urteil darüber noch nicht gefällt worden war.
Rogers hatte eine Menge Dummheiten in seinen fünfundvierzig Jahren auf diesem Planeten begangen – die größte davon vielleicht, diese E-Mails von Ali in seinem Computer stehen zu lassen. Es war ein echter Fehler gewesen. Er hatte seine Software deinstallieren und neu installieren müssen, hatte vergessen, die Einstellung »E-Mails im Computer speichern« zu ändern, und ein paar Monate später hatte seine Frau alles gefunden. Das war das Schlimmste dabei – die E-Mails waren monatelang da gewesen, bis Cathy zufällig darüber gestolpert war.
Dumm, dumm, dumm.
Nein, Ali Daniels war nicht Steve Rogers’ erste Unbedachtheit während seiner zwölfjährigen Beziehung mit Cathy Hildebrant gewesen – seine erste Studentin, das ja, aber nicht seine erste Affäre. Es hatte eine Handvoll andere gegeben, von denen seine Exfrau nicht das Geringste ahnte: eine Sommertheaterschauspielerin hie und da und eine regelmäßige Liebelei mit einer alten Freundin, der er zweimal im Jahr auf Konferenzen über den Weg lief. Letztere hatte schon bestanden, bevor sie beide geheiratet hatten, weshalb Rogers nicht die leisesten Schuldgefühle deswegen empfand. Abgesehen davon war sie diejenige, die Kinder hatte.
Tatsächlich war Steven Rogers sogar stolz darauf, wie »treu« er Cathy Hildebrant all die Jahre geblieben war, denn in seiner Junggesellenzeit war er ein ziemlicher Schürzenjäger gewesen. Oft beschlich ihn der Verdacht, wenn er ebenso viel Energie für seine Schauspielkarriere aufgewendet hätte wie dafür, Frauen ins Bett zu kriegen, hätte er der nächste Marlon Brando werden können – oder zumindest der nächste Burt Reynolds. Mit Letzterem hatte man ihn in seiner Jugend oft verglichen – was er in seiner Zeit in Yale regelrecht gehasst und später, mit Anfang dreißig als zweitklassiger Provinzschauspieler, zu seinem Vorteil ausgenutzt hatte.
O ja, Steven Rogers war sehr, sehr eitel. Doch darüber hinaus schleppte er einen zwar unbewussten, aber auf subtile Weise immer vorhandenen Groll auf das Blatt mit sich herum, das ihm das Leben gegeben hatte. Sicher, auf dem Papier gab es vieles, worauf er stolz sein konnte – er war immerhin Absolvent des angesehenen Master Programms für Schauspiel der Yale University, er war fest angestellter Dozent und der führende Schauspiellehrer an der Brown University. Nichtsdestoweniger fühlte sich Rogers insgeheim irgendwie als Versager, und er hatte den Eindruck, dass aus irgendeinem Grund von vornherein alles gegen ihn gelaufen war. Es hatte nichts mit seiner mittelmäßigen Schauspielkarriere zu tun. Nein, schon bevor er mit zweiundzwanzig nach Yale gekommen war, hatte er zu argwöhnen begonnen, er würde von den Leuten, die ihn zu beurteilen hatten, nicht richtig eingeschätzt; es war, als würde niemand die Tiefe seines Talents wirklich verstehen. Doch anstatt in Bitterkeit zu versinken, entwickelte Steve Rogers bezüglich seines Platzes in der Welt im Lauf der Jahre das Gefühl, ihm stünde noch etwas zu, man schulde ihm etwas. Dies ging so weit, dass er, wenn er Cathy betrog, tatsächlich glaubte, ab und an eine Nummer zur Erholung verdient zu haben, weil er
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