Vollendung - Thriller
begriff – ob er also den Grund für die knotige Brust in einem Zusammenhang verstand, der über die traditionelle, auf Körperflüssigkeiten basierende Medizin der Renaissance hinausging – ist eine Frage, die noch der Klärung bedarf.
Vor dem Hintergrund der zusammenhanglosen Bilder ihres schlechten Traums setzte sich Cathy im Gästebett der Polks auf und studierte lange die Fotografie der Nacht. Sie erinnerte sich lebhaft an die Umstände der Aufnahme – sie hatte das Bild mit ihrer alten Nikon geknipst, als sie noch in Harvard studierte. Damals hätte sie niemals gedacht, dass sie das Bild je für ein Buch verwenden würde, und schon gar nicht in einem so prophetischen Kontext hinsichtlich der Krankheit, die ihre Mutter später töten sollte. Tatsächlich hatte exakt an demselben Nachmittag, an dem sie den Film mit der Nacht in einem Fotolabor in Florenz abgab, ihre Mutter am Telefon die furchtbare Neuigkeit verkündet.
»Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst, Cat«, hatte Kyon Kim gesagt. » Wir koreanischen Frauen sind stark. Bestimmt wird alles gut.«
Über den Schmerz, den die Erinnerungen mit sich brachten, über die böse Ironie des Kapitels hinaus, das sie geschrieben hatte, während ihre Mutter in Boston behandelt wurde, und das seither auch zu einem unbeabsichtigten Testament für sie geworden war, konnte sie das schreckliche Gefühl nicht abschütteln, dass etwas hinter ihrem Traum – etwas, das viel tiefer ging als das bleibende Bild, wie ihre Mutter in einem langen schwarzen Wagen an der Eden Park Elementary School vorbeiraste – sie dazu getrieben hatte, den Abschnitt über die Nacht und den Brustkrebs aufzuschlagen.
»Ja, Dr. Freud«, sagte Cathy laut. »Ich sehe die offenkundige Symbolik. Der lange schwarze Wagen ist der Krebs. Der lange schwarze Wagen gehört Meister Tod. Er ist der Fahrer, den ich nicht sehen kann – meine Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz neben ihm, während er davonbraust. Ich will nicht, dass er sie mitnimmt.«
Aber die Statue der Nacht , antwortete eine Stimme in ihrem Kopf. Der Drang, zu dem Foto zu blättern, das du genau an dem Tag aufgenommen hattest, an dem deine Mutter dir erzählt hat, dass sie Brustkrebs hat. Was für ein Zufall, nicht wahr? Aber du hast den Zusammenhang damals noch nicht hergestellt, oder? Damals in Florenz? Erst Jahre später, als du an deinem Buch gearbeitet hast – und der Zustand deiner Mutter bereits eine Wendung zum Schlechteren genommen hatte – ist dir die Ironie jenes Tages bewusst geworden. Fast als hätten die Götter dich damals zu warnen versucht, aber du konntest sie nicht verstehen.
»Versuchst du, mich vor etwas zu warnen, Mom?«, fragte Cathy. Ihr Blick fiel wieder auf die Seite, auf den Text unter dem Ausschnitt der Nacht.
Daher weist vieles darauf hin, dass Michelangelo eine – tote oder lebende – Frau mit fortgeschrittenem Brustkrebs als Modell benutzte und folglich die körperlichen Auffälligkeiten getreulich in Marmor reproduzierte.
»Eine tote oder lebende Frau«, murmelte Cathy vor sich hin. Erneut las sie mehrmals den Text, der folgte, überzeugt, dass sie etwas übersah, überzeugt, dass es einen verborgenen Zusammenhang zwischen ihrem Traum und der Statue der Nacht gab, zwischen den Umständen der Entstehung des Kapitels und den Worten auf der Seite, zu der sie geblättert hatte – Worte, die einen Hinweis auf das Bewusstsein des Michelangelo-Mörders enthielten.
Eine Botschaft innerhalb der Botschaft, dachte Cathy. Du musst sie sehen, bevor sie dir entgleitet.
Mutter, Zufall in Florenz, Brustkrebs, Nacht.
Traum von Mutter, Drang, die Nacht anzusehen, Brüste, der Michelangelo-Mörder.
»Wo ist die Verbindung?«
Doch trotz des Details der krankhaften Brust selbst sehen wir seltsamerweise einmal mehr beide Brüste unbeholfen an einen männlichen Körper gefügt – als ginge Michelangelos Verständnis des Weiblichen nicht weiter als bis zu einer engen und unpersönlichen Würdigung der »Teile«, die beide Geschlechter unterscheiden, ohne je völlig zu begreifen, wie diese Teile im Gefüge des Ganzen zusammenspielen.
»Teile im Gefüge des Ganzen«, flüsterte Cathy und überflog hektisch die Worte, die sie selbst vor sieben Jahren geschrieben hatte. »Teile, Teile, Teile …«
Andererseits gibt es die Theorie, wonach Michelangelo seine weiblichen Figuren möglicherweise absichtlich so gestaltet hat, wie er es tat – männlich mit weiblichen Teilen –, einfach weil er, wie
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