Vollendung - Thriller
eben ließ sie das Licht anmachen.
Cathys Blick landete auf ihrer Ausgabe von Die im Stein schlafen auf ihrem Nachttisch. Ihr Traum löste sich rasch auf, ein Rückstand ihrer Angst jedoch blieb. Und aus Gründen, die sie nicht gänzlich verstand, öffnete sie das Buch auf einer Seite, die sie in der Nacht zuvor mit einem Eselsohr gekennzeichnet hatte – nur eines von vielen, das sie in der Hoffnung angebracht hatte, später einen Schlüssel zum Denken des Michelangelo-Mörders zu finden.
Das Foto oben auf der Seite war ein Detail aus Michelangelos Nacht, eine von sechs Marmorfiguren, die der Künstler zwischen 1520 und 1534 für die Kapelle der Medici in der Kirche San Lorenzo in Florenz geschaffen hatte – für die Grabmale der Fürsten Giuliano und Lorenzo de Medici, genauer gesagt. Die beiden Marmorfassaden waren in ihrer Konzeption fast identisch – jeweils mit einer stilisierten Statue des Medici-Fürsten, die in einer flachen Nische über dem Sarkophag stand, der seine sterblichen Überreste enthielt. Zwei nackte, allegorische Figuren ruhten auf den geschwungenen Deckeln der Sarkophage – Nacht und Tag bei Giuliano, Morgen- und Abenddämmerung bei Lorenzo. Der Text, zu dem Cathy unbewusst geblättert hatte, lautete wie folgt:
Insbesondere in Hinblick auf die Nacht hat die Gelehrtenwelt lange über die ungewöhnliche Form der linken Brust der Skulptur gerätselt. Wie zuvor schon in der Diskussion der Proportionen der Römischen Pietà erwähnt, vertraten Kunsthistoriker – und in jüngster Zeit sogar plastische Chirurgen – lange die Ansicht, dass die Ausführung der linken Brust der Nacht einmal mehr das angebliche Desinteresse des Künstlers an der nackten weiblichen Gestalt beziehungsweise seine Nichtvertrautheit mit ihr widerspiegle. Sicher, wie bei allen weiblichen Figuren Michelangelos sind die Brüste missgestaltet und wurden unbeholfen auf einen unbestreitbar maskulinen Torso »geklatscht«. Doch obwohl sich die heutige Wissenschaft darin einig ist, dass das ungewöhnliche Aussehen der linken Brust der Nacht Absicht ist und nicht das Ergebnis eines ästhetischen Fehlers oder des leicht unvollendeten Zustands der Statue, hat ein Onkologe vom Amerikanischen Krebszentrum drei Auffälligkeiten an ihr ausgemacht, die mit lokal fortgeschrittenem Brustkrebs einhergehen: eine große Ausbuchtung in der Kontur der Brust auf der Linie der Brustwarze; einen geschwollenen Warzen-/Warzenhofbereich und einen Bereich mit Hautretraktion direkt seitlich der Brustwarze.
Wie der erwähnte Onkologe genauestens darlegt, tauchen diese Auffälligkeiten weder in der rechten Brust der Nacht noch in der begleitenden Figur der Morgendämmerung auf – und auch in keiner anderen weiblichen Figur Michelangelos, nebenbei bemerkt. Daher weist vieles darauf hin, dass Michelangelo eine – tote oder lebende – Frau mit fortgeschrittenem Brustkrebs als Modell benutzte und folglich die körperlichen Auffälligkeiten getreulich in Marmor reproduzierte.
Doch trotz des Details der krankhaften Brust selbst sehen wir seltsamerweise einmal mehr beide Brüste unbeholfen an einen männlichen Körper gefügt – als ginge Michelangelos Verständnis des Weiblichen nicht weiter als bis zu einer engen und unpersönlichen Würdigung der »Teile«, die beide Geschlechter unterscheiden, ohne je völlig zu begreifen, wie diese Teile im Gefüge des Ganzen zusammenspielen. Andererseits gibt es die Theorie, wonach Michelangelo seine weiblichen Figuren möglicherweise absichtlich so gestaltet hat, wie er es tat – männlich mit weiblichen Teilen –, einfach weil er, wie wir früher bereits ausgeführt haben, den männlichen Körper als ästhetisch überlegen ansah.
Angesichts der Tatsache, dass Michelangelo in nur einer der vier nackten Brüste, die die Medici-Kapelle zieren, Knoten abgebildet hat, und angesichts der Tatsache, dass ausgerechnet die Nacht , die »düsterste« und allegorisch unheilvollste aller Figuren, diejenige mit der verheerenden Erkrankung ist, kann es jedoch keinen Zweifel daran geben, dass Michelangelo nicht nur den Knoten als keineswegs nur ästhetische Anomalie erkannte, sondern absichtlich die »Brusterkrankung« der Nacht – die man zur Zeit der Renaissance auf einen Überschuss an schwarzer Galle zurückführte – als eins der vielen subtilen Details ausformte, welche die metaphorische Aussage der Fassade insgesamt ausmachen. Inwieweit jedoch Michelangelo die Krankheit als eine Form von Krebs
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