Vollmondfieber: Roman (German Edition)
doch meinen Arsch aus diesem Krankenhausbett hieven. »Hallooo«, rief ich, »jemand da?«
Während ich auf eine Antwort wartete, spannte und dehnte ich das Bein, wartete auf den Schmerz. Es zwickte mich noch leicht in Hüfthöhe, aber davon abgesehen fühlte sich alles völlig normal an. Die Wunde konnte ich nicht sehen. Mein Bein war nämlich in genug Verbandsmull eingewickelt, um damit eines von diesen hübschen Dekokissen fürs Sofa zu stopfen. Als ich mich an das Hackfleisch erinnerte, aus dem mein Bein bestanden hatte, warich ganz froh darüber, auf den Anblick verzichten zu dürfen. Ich hatte keine Ahnung, ob diese Tortur Narben zurücklassen würde oder nicht. Ich hatte noch eine Menge zu lernen über meinen neuen Körper.
Ein Stockwerk über mir begann eine Unterhaltung. Der tiefe Bariton meines Vaters war unverkennbar. Ich neigte den Kopf. Beinahe erwartete ich, einen bionischen Piepton zu hören, als ich mich auf das Gespräch konzentrierte. Verblüffend, wie klar ich alles hören konnte, gerade so, als wären sie im selben Raum wie ich. Ich probierte mein Sehvermögen an Schächtelchen auf der anderen Seite des Raums aus und konnte die winzigen Buchstaben auf den Etiketten problemlos lesen.
Schritte kamen die Stufen herab, und mein Vater, Callum McClain, der Rudelführer der U.S. Northern Territories, kam in mein Blickfeld. »Das wird auch verdammt Zeit!« Ich schenkte ihm ein breites Grinsen. Es war eine Weile her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten, und ich hatte ihn vermisst. Seit ich das Wolfshabitat vor sieben Jahren verlassen hatte, waren wir uns gerade einmal bei einer Handvoll Gelegenheiten begegnet. Wir mussten hinsichtlich unserer Treffen stets größte Vorsicht walten lassen. Denn hätte man uns zusammen gesehen, hätte das in der Gemeinschaft der Übernatürlichen eine Menge Unruhe ausgelöst. Gerüchte hätten dann meine Tarnidentität auffliegen lassen können. Mit dem unabhängigen Leben, das ich mir so schwer erarbeitet hatte, wäre es dann Essig gewesen.
»Jessica, du hast mich zu Tode erschreckt.« Mein Vater trat an mein Bett. Mit seinem vollen dunklen Haar und dem vollkommen faltenfreien Gesicht sah er keinen Tag älter aus als fünfunddreißig.
»Ich habe mich selbst zu Tode erschreckt.« Ich kicherte. »Du kannst Gift drauf nehmen: Ich hatte für den Abend andere Pläne, als ausgerechnet zur Wölfin zu werden. Außerdem dachte ich, ich würde sterben. Das hat der ganzen Geschichte einen gehörigenDämpfer verpasst. Es hat sich angefühlt, als würde mir jemand mit stumpfem Blatt Arme und Beine absägen.«
»Das erste Mal ist immer heftig«, sagte mein Vater. »Besonders wenn ich nicht da bin, um den Wandel zu unterstützen. Es ist viel leichter, wenn man sich nicht dagegen wehrt und Ruhe bewahrt. Das Sedativum hätte dir den Schmerz erspart. Warum hast du es nicht genommen?« Mein Vater zog sich einen Stuhl an das Bett heran und nahm Platz. »Auf diese Notfallmaßnahme hatten wir uns doch geeinigt, falls du je in den Wandlungsprozess geraten solltest! Du hättest es dir injizieren und dich selbst ausschalten sollen. Dann hätten wir dich rechtzeitig finden können, damit dir im Zuge der Wandlung nichts zustößt. Wirklich, Jess, du hättest dich beim Sprung aus dem Fenster deiner Wohnung tödlich verletzen können! Und wir können von Glück reden, dass der Schuss dir nicht das Rückenmark durchtrennt hat! Ich habe dir vertraut und darauf, dass du unsere Vereinbarung einhältst. Ich bin davon ausgegangen, dass du sie minutiös befolgst.«
»Es tut mir leid.« Ich zupfte am Laken wie ein schuldbewusstes Kind. »Ich habe versucht, mir die Spritze zu holen, aber ich habe es nicht geschafft. Selbst schuld. Ich habe das Etui vor ein paar Jahren aus meinem Nachttisch genommen und in den Badezimmerschrank gelegt. Ich dachte, das wäre nahe genug. Aber ehrlich, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich es je brauchen würde. Ich bin doch schon vor über zehn Jahren in die Pubertät gekommen, und es hieß doch immer, ich wäre genetisch nicht dazu geschaffen, mich zu wandeln.« Ich hielt einen Moment inne. »Es tut mir leid. Ich dachte, du wärest überfürsorglich – so wie immer.«
»Jessica, meine Liebe!« Dr. Jace betrat den Raum. Das vertraute weiße Haar umwehte sein Gesicht wie ein zarter Glorienschein. Unverkennbar amüsierte er sich prächtig, gepaart allerdings mit Verwunderung. »Du hast uns in Angst und Schrecken versetzt! Du bist ein Wunder, junge Dame, ein
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