Vollmondkuss
sie fortgerissen und an den Füßen über den holperigen Steinboden gezogen. Ihr Kinn schlug einige Male gegen eine scharfe Kante, und ihre Handballen fingen an zu brennen.
Irgendwann, Jolin hätte nicht sagen können, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war, lockerte sich der Griff um ihre Füße. Jemand beugte sich über sie. Für einen kurzen Augenblick sah Jolin zwei große schwarze Pupillen in einem strahlend weißen Augapfel. Dann wurde sie plötzlich hochgehoben, in einem engen Kreis eine Treppe hinuntergetragen und durch eine Luke gezwängt. Sie fiel kopfüber auf etwas Weiches.
»Mach, dass du wegkommst!«, zischte eine Stimme. Sie ertönte von der Luke her, und sie kam Jolin bekannt vor.
»Wer bist du?«, presste sie mühsam hervor. Ihre Kehle war noch immer wie eingefroren, und in ihrer Halsbeuge fühlte Jolin einen brennenden Schmerz. Vorsichtig tastete sie mit den Fingerkuppen danach und spürte etwas warmes Feuchtes. »Was ist das?«
»Dein Blut«, wisperte die Stimme. »Und jetzt hör auf zu fragen, sondern verschwinde. Und zwar so schnell du kannst.«
Jolin versuchte sich aufzurichten. Ihr Körper war steif, und ihre Muskeln schienen völlig erschlafft zu sein. Jolin konnte sich keinen Zentimeter in die Höhe bewegen. Stöhnend wälzte sie sich auf die Seite. Ihr Blick fiel auf ein quadratisches Loch in der Steinmauer, durch das ein Stück vom Himmel, eine schlierig graue Wolke und die schmale Sichel des Mondes zu sehen waren,
»Steh auf!«, raunte die Stimme. Sie war weich und dunkel und passte eher zu einer Frau als zu einem Mann, und plötzlich wusste Jolin, wo sie sie schon mal gehört hatte: Vor nur wenigen Tagen in Ansgar Lechtewinks Antiquariat. »Was wollen Sie von mir?«
Die Stimme lachte leise. Dann sagte sie: »Die Energie, die du aufbringst, um unsinnige Fragen zu stellen, solltest du lieber dazu nutzen, auf die Beine zu kommen.«
Jolin wandte den Kopf zur Luke hin, doch außer einem breiten schwarzen Spalt konnte sie nichts erkennen. Sie merkte, dass ihre Kräfte allmählich zurückkehrten, ihre Muskeln sich strafften und offenbar wieder bereit waren, ihrem Willen zu gehorchen.
Langsam setzte Jolin sich auf und stellte fest, dass sie sich in einem winzigen Raum befand. Außer ein paar muffigen alten Decken und der Holzpritsche, auf der sie hockte, gab es nur noch eine große dunkle Truhe mit rostigen Beschlägen. Sie stand in der Ecke unterhalb des Fensters, an einer Stelle, wo auch bei Tag kaum Licht hinfallen würde.
»Und wo soll ich hin?«, fragte Jolin. Eine Tür konnte sie in keiner der vier Wände entdecken.
»Durchs Fenster«, sagte die Stimme. »Jetzt mach schon!«
Jolin erhob sich von der Pritsche. Ihre Knie zitterten. Sie versuchte zu begreifen, was geschehen war, doch das Erlebte hatte sie in eine Art Schockzustand versetzt, der es ihr unmöglich machte, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Gefühle waren ebenso diffus und ungreifbar. Sie spürte noch nicht einmal Angst. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Als sie das scheibenlose Fenster erreichte, stellte sie fest, dass ihr seine Unterkante bis zur Brust reichte. Zudem war es recht schmal und auch nicht besonders hoch. Jolin hatte nicht den geringsten Schimmer, wie sie dort jemals hinausgelangen sollte.
Vorsichtig schob sie den Kopf hindurch und erkannte, dass das Fenster sich auf einer Ebene mit dem Erboden befand. Der Raum, in dem sie war, musste eine Art Souterrainkeller sein. Jolin streckte ihre Arme nach draußen und tastete nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Als Erstes versuchte sie es mit einem Grasbüschel, doch die winterlichen Halme waren viel zu kurz und spröde, um ihrer Zugkraft standhalten zu können. Ungeduldig ließ Jolin ihre Hände weiter über den Boden gleiten, und endlich umfasste sie mit der Rechten eine scharfe Steinkante, die einige Zentimeter aus der Erde ragte.
Jolin vergewisserte sich, dass ihr niemand auflauerte. Das Mondlicht hatte den Hügel und die Ruine in ein fahles, unwirkliches Licht gehüllt, und zu gerne hätte sie daran geglaubt, dass dies hier nur ein schrecklicher Traum war, aus dem sie jeden Augenblick erwachen würde, doch der Schmerz in ihrer Halsbeuge, das wunde Gefühl in ihren Knochen und die brennenden Handflächen waren einfach zu real. Noch einmal lauschte sie aufmerksam. Alles war still, nahezu totenstill. Nirgends waren die Stimmen ihrer Stufenkameraden oder die von Herrn Gregori zu hören.
Entschlossen krallte
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