Vollmondkuss
Jolin die Finger beider Hände um die Steinkante und zog mit aller Kraft. Sie stöhnte leise, als ihre Brust über die Fensterkante rutschte. Sie presste ihre Oberschenkel fest gegen die Innenwand und versuchte, sich auf diese Weise weiter hochzudrücken. Jolin war so darauf konzentriert, ins Freie zu gelangen, dass sie die leisen Schritte, die sich ihr näherten, nicht hörte. Plötzlich umfasste jemand ihre Handgelenke. »Hier bist du also!«
Jolin schrie. Sie schrie und schrie und schrie und wollte gar nicht mehr aufhören. Verzweifelt versuchte sie sich an der Steinkante festzuhalten, doch der, der ihre Handgelenke ergriffen hatte, zerrte so vehement an ihr, dass ihre Finger abrutschten. Jolin bäumte sich auf und wand sich in alle Richtungen, doch erst, als sie rücklings auf dem holperigen Erdboden lag und endlich losgelassen wurde, erkannte sie, dass es Leonhart war.
»Was machst du denn hier?«, stieß sie hervor.
»Dasselbe frage ich dich«, erwiderte er, während er ihr seine Hand entgegenhielt, die Jolin nun gerne freiwillig ergriff. »Hast du eine Ahnung, wie lange wir schon nach dir suchen? Der Gregori ist völlig am Ende.«
»Was?«, sagte Jolin fassungslos. »Aber ich war doch nur ein paar Minuten in der Burg.«
»Dann hat dein Zeitgefühl auf jeden Fall etwas abbekommen«, erwiderte Leonhart, während er ihr auf die Beine half. »Es ist jetzt kurz vor halb elf.«
»Was?«, rief Jolin noch einmal. Sie begutachtete ihre schmerzenden Handballen und stellte fest, dass die Haut nur leicht aufgeschürft war. »Sind die anderen etwa noch hier?«
»Was denkst du denn!«, sagte Leonhart. »Der Gregori lässt bei der Dunkelheit niemanden alleine den Hügel runter. Außerdem machen sich alle Gedanken um dich«, fuhr er fort, während er seinen Blick auf Jolins Hals richtete. »Was hast du denn da?«
Unwillkürlich hob sie eine Hand zum Kragen ihres Steppmantels, ließ sie jedoch wieder sinken, bevor sie ihn berührte. »Wieso?«
»Weil da Blut ist«, sagte Leonhart. »An deinem Mantel.«
Jolin zuckte die Schultern. »Wahrscheinlich hab ich mir da die Haut aufgeratscht, als du mich aus dem Fenster gezogen hast.«
»Kein Problem«, sagte Leonhart. »Ich bin gerne schuld.« Er musterte sie besorgt. »Und sonst geht es dir gut? Ist wirklich alles okay?«
»Ja«, beteuerte Jolin. Um seine Aufmerksamkeit von der blutenden Stelle am Hals abzulenken, öffnete sie ihre Handflächen und zeigte ihm ihre Schrunden. »Das tut alles nicht weh. Ich spüre überhaupt keinen Schmerz. Nirgendwo«, log sie.
»Aber du willst mir nicht erzählen, was du da drin erlebt hast?«, fragte Leonhart und deutete auf das Fenster.
»Da gibt es nichts zu erzählen«, erwiderte Jolin. Sie ließ ihren Blick seinem ausgestrecktem Zeigefinger folgen und bemerkte, dass das Fenster sich einige Schritte von der Burgmauer entfernt befand. Es war in einen Felsen eingelassen, der gut einen Meter aus dem Geröllboden ragte und außerhalb des Ruinengeländes lag. »Wieso hast du mich hier überhaupt gesucht?«, fragte sie.
Leonhart sah sie nur an. »Kannst du dir das nicht denken?«, fragte er schließlich.
Jolin schüttelte den Kopf.
»Ich habe Rouben gesehen«, sagte Leonhart. »Ich habe beobachtet, wie er das Hauptgebäude durch einen Seiteneingang verlassen und sich zur Rückseite der Ruine geschlichen hat. Dort gibt es einen Durchschlupf in der ansonsten noch ziemlich intakten Außenmauer. Ich bin ihm gefolgt, habe ihn allerdings ziemlich schnell aus den Augen verloren.« Er hob die Hände und rang sich ein Lächeln ab. »Dafür habe ich dich gefunden.«
»Komisch«, setzte Jolin zu einer weiteren Lüge an. »Mir ist er nicht begegnet.«
Es war kurz vor Mitternacht, als Jolin daheim aufschloss. Hastig schlüpfte sie in die Diele und drückte die Tür wieder zu. Diesmal war sie ohne besondere Vorkommnisse durchs Treppenhaus gekommen. Außer einer Mitbewohnerin aus dem Parterre, die zur selben Zeit heimkehrte, war ihr niemand begegnet. Kein Schatten und auch keine Kälte im ersten Obergeschoss, so, als ob die Hitze in der Ruine sie ein für alle Mal besiegt hätte. Schön wär’s, dachte Jolin, sie hatte allerdings das beklemmende Gefühl, dass das, was sie heute auf der Burg erlebt hatte, nicht wirklich das Ende dieser entsetzlichen Geschichte gewesen war. Während der Rückfahrt hatte sie versucht, endlich einen klaren Gedanken zu fassen, aber in ihrem Kopf wirbelte noch immer alles durcheinander. Das Einzige, was sie wusste,
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