Vollmondkuss
du?«, presste Jolin hervor. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie versuchte sich wegzudrücken, doch die Arme hielten sie sanft, aber bestimmt gefangen. Der Geruch von Leder stieg ihr in die Nase, und allmählich schälte sich aus der Dunkelheit die Ahnung eines blassen Gesichts heraus.
»Wer bist du?«, wiederholte Jolin panisch.
Wer wohl?
»Rouben?«
Sein Name hallte leise von den Wänden wider, doch in Jolins Kopf herrschte Stille. So sehr sie sich auch zu konzentrieren versuchte, sie bekam keine Antwort.
»Warum redest du nicht mit mir?«, rief sie. Ihre Stimme klang schrill. Jolin kam es vor, als ob sie den gesamten intakten Teil der Burgruine ausfüllte. Irgendjemand musste sie doch hören.
Weil dieses hier ein besonderer Ort ist.
»Wie meinst du das?«, stieß Jolin hervor.
Meine Heimat. Meine Wurzeln. Verstehst du?
»Nein, ich verstehe gar nichts!«, schrie Jolin.
Sei still! Oder willst du wirklich, dass uns jemand hört?
Jolin hatte das Gefühl, dass ihr Herzschlag ihre Brust jede Sekunde auseinandersprengen müsste. »Dann erklär’s mir doch!«, flehte sie leise.
Auch das ist so einfach, dass du eigentlich von selber darauf kommen müsstest ...
Natürlich, die Party!
Schlaues Mädchen!
Das würde Rouben doch nie sagen! Nicht so.
Bist du dir sicher?
Das blasse Gesicht näherte sich ihrem. Jolin sah die dunklen Augen, die kräftige gerade Nase, den schön geschwungenen Mund und das dunkle Mal über der Oberlippe. Doch, es war Rouben. Er musste es sein. Niemand anderer sah aus wie er.
»Nur weil ich nicht auf deine Party kommen will?«, fragte sie.
Du hast es erfasst.
»Rouben ...«
Ja, mein Engel?
Sein Atem streifte Jolins Wange. Er war kühl. Eine feine Gänsehaut lief ihren Hals entlang und entlud sich in ihren Brustwarzen. Schlagartig war die Erinnerung an die Neumondnacht wieder da. Jolin schloss die Augen. Sie wusste, dass sie ihn abwehren musste. Die Geschichte durfte sich nicht wiederholen. Die Kälte danach ertrug sie nicht. Nicht noch einmal. Mit aller Gewalt konzentrierte Jolin sich auf ihren Verstand. Sie spannte die Muskeln und spürte, wie ihre Erregung nachließ.
Du weißt nicht, was du verpasst ...
»Doch, das weiß ich, Rouben. Ich weiß es wie keine andere.«
Ich rede nicht von neulich. Ich rede nur von meiner Party. Sie soll etwas Besonderes sein. Der Höhepunkt. Und du willst nicht daran teilnehmen?
»Nein.«
In diesem Moment durchfuhr ein eiskalter Stich ihre Halsbeuge. Jolin erstarrte. Sie riss den Mund auf, um zu schreien, aber es kam nur ein heiseres Gurgeln heraus. Im nächsten Moment erschlafften ihre Muskeln. Ihr Herz schlug schnell und verzweifelt, dann stand es still.
Ein hoher durchdringender Schrei wie von einem wilden Tier durchschnitt die Dunkelheit. Jemand umfasste Jolins Knöchel und riss ihre Beine weg. Sie stürzte zu Boden. Ein schwarzer Schatten, schwärzer noch als die Dunkelheit, legte sich über sie und lähmte sie mit einer Eiseskälte, wie sie sie nie zuvor, weder daheim im Treppenflur noch in der Nacht nach Klarisses Party vor dem Nachbarhaus, gespürt hatte. Doch zum Glück waren da immer noch die Hände, die ihre Knöchel umklammert hielten und von denen eine glühende Hitze ausging, die kraftvoll in Jolins Beine kroch und allmählich bis zu ihren Oberschenkeln hinaufstrahlte. Diese Hitze schien mit aller Macht gegen die Kälte anzukämpfen, je weiter sie aber in Jolins Körper einzudringen versuchte, desto enger legte sich der eisige Schatten um ihre Brust. Er drückte ihr die Luft ab und schnürte , ihr das Herz zu, das ohnehin nur noch zaghaft schlug. Ja, es schlug, es hatte nicht still gestanden, aller-höchstens einen winzigen Augenblick lang, bis Jolin zu Boden gerissen und von dieser Hitze durchströmt wurde. Kein Zweifel, die Kälte wollte sie töten, und die Hitze versuchte genau dieses zu verhindern. Doch die Kälte drückte und drückte, sie gefror Jolins Oberkörper, griff mit gierigen Fingern nach ihren Hüften und drängte die Hitze in ihre Kniekehlen zurück. Einen Moment lang sah es tatsächlich so aus, als ob die Kälte Jolins Körper vollkommen in Besitz nehmen könnte, aber dann, als die Hitze sich schon wieder bis in ihre Knöchel zurückgezogen hatte, schlug sie noch einmal mit aller Vehemenz zurück. Mit einer geradezu irrsinnigen Kraft schoss sie in Jolins Körper, die Beine hinauf über ihren Rücken und traf wie ein Messerstich in ihr Herz. Jolin schrie. Sie hatte das Gefühl, zu verglühen. Dann wurde
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